Musik zur Marienverehrung: Einspielungen

  • A Scottish Lady Mass
    Sacred Music from Medieval St. Andreas
    Music from the eleventh fascicle of W 1

    Red Byrd
    Yorvox

    Das Ensemble Red Byrd besteht aus den beiden Sängern John Potter, Tenor und Richard Wistreich, Bariton, beide in der Alten Musikszene bekannt und anerkannt. Über John Potter und Yorvox ist als Short Biography auf einer Seite der bach-cantatas.com zu lesen:

    John Potter is involved with two vocal ensembles in the Music Departmentnt [York]: Yorvox, a small vocal chamber group and York Vocal Index, a larger, 16 voice 'soloists choir' which which he co-directs with Bill Brooks. He also coaches an MA vocal ensemble and vocal groups on the Ensemble Performance Project.

    Inzwischen dürften es einige Ensembles mehr sein, z.B. ist/war er Mitglied des Hilliard-Ensembles und als solcher an der bekannten Perotin-CD beteiligt, als Sänger und musikalischer Mentor der Gruppe The Sound and the Fury beschäftigt er sich mit dem francoflämischen Repertoire.


    St. Andrews in Schottland war ein alter Bischofsitz. Marienverehrung spielte im Mittelalter in England und Schottland eine große Rolle. Regelmäßig wurden Messen und Offizien zu Ehren der Mutter Jesu gefeiert; in den Kathedralen gab es sogar eigens für die Marienverehrung bestimmte Kapellen, so auch in St. Andrews.

    Die Diözese St. Andrews hatte Beziehungen zu Frankreich; ihre Bischöfe stammten fast alle aus normannischen Familien. So überrascht es keineswegs, dass hier mehrstimmige Musik bekannt war, die ihren Ursprung in Frankreich, im Paris des 12. Jahrhunderts hatte: das liturgische Repertoire der Notre-Dame-Schule.


    Um dieses Repertoire geht es Potter und Wistreich hier, genauer um die Musik aus einem ganz bestimmten Manuskript: Wolfenbüttel, Herzog August Bibliothek, Cod. Guelf. 628 Helmst. (bekannt als Manuskript W 1), eines der drei erhaltenen Manuskripte aus dem 13. Jahrhundert, das große Teile des Magnus liber organi de graduali et antiphonario pro servitio divino enthält, einer Sammlung, die von der deutschen Wikipedia als "das musikgeschichtlich bedeutendste Zeugnis der Notre-Dame-Schule des späten 12. und 13. Jahrhunderts" bezeichnet wird und schon seit langer Zeit Gegenstand von wissenschaftlichen Forschungen ist.

    Wie aber kann man Weg und Herkunft eines solchen Manuskripts rekonstruieren?

    Mark Everist beschreibt das ausführlich und anschaulich im Booklet. Er geht davon aus, dass die Hauptquelle des Magnus liber organi um 1250 in Paris kopiert wurde und es sich dabei um das Manuskript handelt, dass sich heute in Florenz befindet. Bei dem Wolfenbütteler Manuscript W 1, das in St. Andrews kopiert wurde, handele es sich aber um eine ebenso wichtige Quelle.

    Zitat

    Der Beweis für das Manuskript – das seit Jahrzehnten als W1 bezeichnet wird – sind die zwei hinzugefügten Organa, die im Pariser Repertoire unbekannt, doch in passabler Anlehnung daran für den Heiligen Andreas komponiert sind: „Vir iste“ und „Vir perfecte“. Wahrscheinlich hatte ein Mitglied der Familia des letzten normannischen Bischofs von St. Andrews, Guillaume Mauvoisin (Bischof von 1200 bis 1239), den Bischof auf einer seiner vielen Reisen auf den europäischen Kontinent begleitet und Noten der modernen, neuen Musik aus Paris mitgebracht, die dann die Grundlage für W1 waren. Dass die Musik in Schottland aufgeführt wurde, lässt sich aus den musikalischen Unterschieden der Werke aus W1 und den Pariser Quellen erschließen. Zudem schrieb ein unternehmungslustiger örtlicher Musiker zwei Responsorien in dem Stil der Pariser Praxis zu Ehren des Schutzheiligen der Kathedrale, der Heilige Andreas.

    Man könnte jedoch argumentieren, dass die interessantesten Stücke des W1 diejenigen sind, die im sogenannten 11. Faszikel notiert sind. Es sind dies Werke, die wahrscheinlich in St. Andrews in einem hiesigen Stil komponiert sind [...]
    Die Werke des 11. Faszikel von W1 sind sowohl aufgrund ihrer liturgischen Eigenheit als auch ihres musikalischen Stils bemerkenswert.


    Everist führt weiter aus, dass in Paris traditionsgemäß die Soloteile der Responsorialgesänge vertont worden seien; daher bestehe das Magnus liber organi aus Vertonungen von Gradualen und Alleluiagesängen für die Messe und Responsorien für die Matutin und Vesper. Er nimmt an, dass dieses Repertoire bei der Reise eines Bischofs nach Frankreich in W1 kopiert wurde.
    Der 11. Faszikel von W1 bestehe aus tropierten Sätzen des Messe-Ordinariums (Kyrie, Gloria, Sanctus und Agnus Dei), Tracti, Sequenzen, Offertorien, und anderen Bestandteilen des Propriums. Nicht zu finden seien Graduale; der einzige gemeinsame Punkt mit dem Pariser Repertoire sei das Alleluia.

    Die stilistischen Unterschiede zwischen den Pariser und schottischen Stücke in W1 sind nach Ansicht von Everist groß.


    Zitat

    Der Pariser Stil des Magnus liber organi zeichnet sich durch die sorgfältige Kombination von Choral, Organum (wo die untere der beiden Stimmen sehr lange Notenwerte hat und unterhalb einer ausgeschmückten Oberstimme liegt), Diskant (wo sich beide Stimmen kontrapunktisch Note-gegen-Note bewegen) und Copula (eine Art Mittelding zwischen den beiden anderen Techniken) aus. Die Werke des 11. Faszikel von W1 sind größtenteils Note-gegen-Note komponiert, während der Pariser Stil der ausgehaltenen Unterstimme nur selten vorkommt und oft für kadenzartige Passagen reserviert ist („Gloria. Per precem“ ist ein Beispiel hierfür).
    Ob der Kontrapunkt im selben Taktmaß steht wie der Pariser Diskant oder ob er in etwas freierer Weise aufzuführen ist, wie etwa der zeitgenössische Conductus, ist unklar. Der St. Andrews Stil ist einfacher, direkter und damit möglicherweise dem modernen Hörer leichter zugänglich.

    Den Interpreten ging es bei der vorliegenden Aufnahme nicht um die liturgische Rekonstruktion einer Messe, wie das bei vielen anderen Aufnahmen beabsichtigt ist. Sie wollen zeigen, wie die Musikkultur um 1230 in St. Andrew war und wie sie sich im Manuskript W1 spiegelt:

    Rex, virginum amator sei ein tropiertes Kyrie, darauf das tropierte Gloria. Per precem Missus Gabriel und Hodierne lux seien Sequenzen und weitere tropierte Stücke seien Sanctus. Mater mitis, Sanctus. Voce vita und Agnus Dei. Factus homo. Außerdem gebe es hier noch zwei monophone tropierte Ordinariumssätze aus dem 10. Faszikel von W1: Sanctus. Christe ierarchia und Agnus Dei. Archetipi mundi.

    Die beiden letzten Werken zeigen nach Ansicht von Everist das fruchtbare intellektuelle Klima in St. Andrew: beide Texte seien voller subtiler Anspielungen und zeigten eine Bildung, die das Griechische impliziere.


    Das beiliegende gedruckte Booklet ist eine Zumutung. Es enthält zwar alle Texte in Latein und englischer Übersetzung sowie die Einführung von Everist in Englisch, Französisch und Deutsch in der kleinsten Schrift, die man sich vorstellen kann, Ameisenschrift. Wenn man nicht mehr so ganz jung ist und schon lesen kann bzw. noch möchte, braucht man eine Lupe. Zum Glück kann man Booklettexte von Hyperion-CDs im Internet finden; vor allem für die preiswerten Helios-CDs ist das eine gute Lösung.

    Abgesehen von dieser Kritik: die Einführung von Everist für diese CD ist vorzüglich. Ich hätte sie am liebsten einfach ganz kopiert, aber das wäre sicher nicht im Sinne des Erfinders. So habe ich einen Teil direkt oder indirekt zitiert. Ich finde es sehr interessant zu lesen, was alles an wissenschaftlicher Detektivarbeit nötig ist, damit wir eine solche Aufnahme hören können. Hoffentlich interessiert das jemanden von euch auch so sehr wie mich.

    Wie man meinem Beitrag unschwer entnehmen kann, hat mir die CD sehr gefallen. Sie hört sich auch gar nicht nach trockener Musikgeschichte an, sondern ist gut gesungen. Große Empfehlung also für alle, deren Ohren für diese Art Musik offenstehen.


    lg vom eifelplatz, Chris.


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    Aus diesen Quellen habe ich meine Weisheiten bezogen:

    Trackliste und Beitrag von Mark Everist aus dem Booklet

    John Potter
    bach-cantatas.com
    university of york
    red-byrd
    red-byrd

    Richard Wistreich

    magnus liber organi

    Cod. Guelf. 628 Helmst.
    Digitalisat


    Discographien

    medieval.org
    discogs