Was wäre, wenn es nur HIP gäbe?

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    Bon soir,

    was wäre, wenn es nur HIP gäbe? Sicher, eine rein fiktive Frage mit etlichen Lösungsmöglichkeiten. Den Ausschlag aber gab ein Posting bei den Collegen und ich frage mich wirklich, was Hörer dieser Art eigentlich hören würden, wenn es die Aufführungspraktiken der 1950er ff. Jahre niemals gegeben hätte? Würden sie klassische Musik per se nicht hören? Oder hätten sie ggfs. gleich (quasi von Geburt an) andere Hörgewohnheiten?

    Ich kann nur persönlich sagen, daß es mir auch ähnlich ging, als ich in den 1980ern erstmals Interpretationen auf authentischen Instrumenten hörte. Es überwog damals der Reiz, durch die "echten" Instrumente "näher am Werk" resp. "näher am Komponisten" zu sein; gefallen hatte mir das erstmal nicht wirklich. Und irgendwann machte es *klick* ...

    :wink:

  • Exakt das gleiche denke ich auch. Ich habe drüben mal meinen Senf dazu gegeben, v.a. was das Problem von Vorstellung des Komponisten versus tatsächliche Aufführungsbedingungen angeht. Ich kann nicht mehr sagen als dass ich den Ansatz interessant finde, aber nicht meine Hand für irgendwelche Authentizitätsfragen ins Feuer legen würde... Aber ich bin mittlerweile auch eher ein rezessiver HIP-Revoluzzer geworden... :wacko:

    Um auf Deine Frage zurückzukommen: ich glaube dass der Mensch ein Gewohnheitstier ist. Manch einer mehr, manch einer weniger. Würde es nur HIP geben, würde man mit diesen Hörgewohnheiten alles andere hören, und auch erst ablehnen, und dann annehmen - oder eben nicht.

    Ich mag beides. *sante* :P

    "Nichts gleicht der Trägheit, Dummheit, Dumpfheit vieler deutscher Geiger."
    Max Bruch (1838-1920)

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    Ich habe drüben mal meinen Senf dazu gegeben, v.a. was das Problem von Vorstellung des Komponisten versus tatsächliche Aufführungsbedingungen angeht. Ich kann nicht mehr sagen als dass ich den Ansatz interessant finde, aber nicht meine Hand für irgendwelche Authentizitätsfragen ins Feuer legen würde... Aber ich bin mittlerweile auch eher ein rezessiver HIP-Revoluzzer geworden...


    Letzteres finde ich sehr schade; ich persönlich würde mir das nicht geben. Andererseits verstehe ich natürlich, wenn man es leid ist, gegen Wände zu reden.

    Vorliegendenfalls geht man jedenfalls von völlig falschen Grundlagen aus, macht diese zum Gegenstand einer völlig sinnlosen Diskussion, indem man suggeriert, Schoonderwoerd (man sollte den Namen natürlich auch korrekt aussprechen können; der neuen CD mit Mozartkonzerten ist ein Video beigestellt, wo der Künstler sich persönlich vorstellt...) behaupte, man müsse es so spielen, weil es vom Komponisten so gedacht war... das wird nirgendwo je behauptet, weder vom Künstler selbst noch von seinen Befürwortern. Es geht lediglich darum, eine (Ur)Aufführungssituation nachzustellen; dies hatte z.B. der Knabe Grossmann mit seinem Ensemble 28 (man beachte den Ensemblenamen!) mit der Eroica bereits vor langer Zeit getan, indem er die Sinfonie (ebenfalls rein experimentell) mit 28 Musikern aufführte, wie dies im Eroicasaal damals stattfand. Insofern ist Schoonderwoerd hier nur auf einen auf einem einsamen Gleis fahrenden Zug aufgesprungen, hat ihn rundum blankgeputzt, geölt, geschmiert und ordentlich Kohlen reingegeben. Da dieses Unterfangen eine tolle Wirkung hatte, fährt der Zug eben weiter und fräst sich allmählich auch durch andere Gefilde, will meinen: das Ensemble Cristofori spielt nun auch Werke in dieser Besetzung, bei denen eine solche Aufführungspraxis (zwar) nicht nachgewiesen ist, bei denen man aber durchaus anhand diverser Überlieferungen davon ausgehen kann, daß sie vielfach auch stattgefunden haben mögen: es war übliche Praxis, solch kleine Ensembles zu verwenden (unabhängig vom Wunschdenken des Komponisten). Es geht also garnicht darum, ein Werk möglichst realitätsnah und -getreu wiederzugeben (was ohnehin unmöglich ist), sondern darum, ein neues Klangexperiment und -konzept zu betreiben. Und das mit Erfolg.

    Wer Bach mit großbesetzten Orchestern spielen/hören darf, darf auch Beethoven im kammermusikalischen Touch praktizieren. Außerdem wird vielfach verkannt, daß eine solistische Streicherbesetzung nur unwesentlich "leiser" ist, als die Standardbesetzung (siehe meine Ausfürungen zu Powell; das, was sich definitiv ändert, ist die Klangfarbe. Dies kann man mögen, muß es aber (natürlich) nicht. Kammermusikalische Kostverächter werden dies also eher nicht hören können/wollen, die Fraktion der Streichquartettfans wird eher von dieser Aufführungspraxis zu begeistern sein. Das gleiche betrifft die Klangfarbe der verwendeten Tasteninstrumente: dabei ist der verwendete Johann Fritz eines der klangschönsten historischen Instrumente, das original erhalten ist. Wer aber den Steinwayklang vorzieht, der muß eben mit diesen äußerst langweiligen Einspielungen, die alle gleich klingen, leben. Die Beethovenkonzerte waren jedenfalls auf die unterschiedlichen Klangeigenschaften der Register damaliger Instrumente abgestimmt - diese Klangvielfalt wird durch moderne Instrumente zerstört (sie haben dafür vielleicht andere Vorteile, die für mich allerdings nicht überwiegen).

    HIP ist eben auch nicht die historische Aufführungspraxis, sondern sie vereint verschiedene historisch belegte Umgangsformen mit der Musik: da wurden Instrumentengruppen reduziert, ganze Werke (seien es Claviersonaten oder Orchesterwerke mit Chor und Solisten für Streichquartett umgefummelt), ebenso wurden - dem Anlass genügend - mal eben Trompeten- und Paukenstimmen dazugekritzelt. Dies alles macht die Musik erst wirklich spannend. Das hat alles mit Authentizität überhaupt nichts zu tun, sondern eher mit Lebendigkeit, Flexibilität, Erfindungsgeist und letztlich mit Mut. Dies alles macht Kunst erst zur Kunst.

    Aus dem Booklet der neuen Mozart-CD Schoonderwoerds:

    Zitat

    Im Musikarchiv von Sankt Peter in Salzburg ist eine zeitgenössische Kopie der Orchesterstimmen von KV 466 erhalten. Dabei handelt es sich um solistisch besetzte Stimmen mit jeweils einer zusätzlichen Ripieno-Partie für die 1. und 2. Geige, die nur in den Tutti-Passagen mitspielen: Ein weiterer Beleg dafür, dass in der Praxis des späten 18. Jahrhunderts Instrumentalkonzerte oftmals solistisch begleitet wurden, eventuell mit einer größeren Besetzung für die Tutti-Passagen.

    :wink:

  • Es hängt sicher auch davon ab, wie jung man ist, und was seine ersten Höreindrucke waren.

    Ich habe HIPpe Aufnahmen vom Anfang an gehört, so war es für mich natülich, dass es auch diese gibt, etwas später, als ich schon selbst CDs gekauft habe, habe ich dann bewusst entschieden, dass ich diese bevorzugen werde. Erst im Rahmen meiner Sammelleidenschaft bin ich dann auf den Vergleich mit nicht-HIPpen Aufnahmen gekommen, der mir - ehrlich gesagt - viel Freude bereitet. Ich möchte am liebsten all meine Lieblingswerke sowohl HIP als auch HUP hören können.

    Das stimmt etwa auch auf die solistische Besetzung: ich finde es auch schade, wenn manche Werke nur in solistischen Einspielungen greifbar sind (z.B. die Kirchensonaten Bibers) - und natürlich auch umgekehrt, weil ich auch da die Vergleichsmöglichkeit gerne hätte.

    LG
    Tamás
    :wink:

    Alle Wege führen zum Bach,
    .................................... wo der kleine Biber lebt!

  • Die Diskussion drüben wird immer sinnloser und weiter vom Kern entfernt. Ich denke, dass es sinnlos ist, darüber gepflegt zu debattieren, denn über Geschmäcker kann man nun mal nicht streiten!

    Ich meinte mit der Formulierung "rezessiver HIP-Revoluzzer" nicht nur, dass es sinnlos und frustrierend ist, ständig gegen Wände anrennen zu müssen, sondern auch, dass ich eingesehen habe, dass beide Bewegungen sich nicht oder nur schwer von den guten Seiten der anderen überzeugen lassen. Das hat mich einfach ein bisschen desillusioniert, denn ich denke dass jede Interpretation und jeder Interpretationsansatz seine Berechtigung haben sollte, weil die Kunst ja letztlich frei ist. Wenn man sich gewisse Grenzen auferlegt, oder wie man das auch nennen mag, dann ist das gut, für mich ist das aber auf Dauer nichts, denn ich will mich nicht ständig rechtfertigen müssen. Und das muss man, sobald man eine der beiden Richtungen einschlägt - derzeit kommt mir es fast so vor, als sei es schwieriger, von HIP-Leuten akzeptiert zu werden, wenn man auch traditionelle Aufführungspraxis verfolgt, als umgekehrt. Und das finde ich total schade, denn es führt auch zu nichts. Von Radikalität wird selten ein Herz berührt.... :wacko:

    Aber das ist jetzt OT, und ich höre auf zu jammern. :D

    Bonne nuit, das alternde Federgeflügel

    "Nichts gleicht der Trägheit, Dummheit, Dumpfheit vieler deutscher Geiger."
    Max Bruch (1838-1920)

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    derzeit kommt mir es fast so vor, als sei es schwieriger, von HIP-Leuten akzeptiert zu werden, wenn man auch traditionelle Aufführungspraxis verfolgt, als umgekehrt.


    Den Eindruck habe ich in besagtem Thread und im benachbarten Goldbergvariationenthread nicht gewonnen. Da scheinen die HIPpies eher als Nervensägen eingestuft zu werden... und dies kann ich nur als bodenlose Frechheit interpretieren. Ich fühle mich nicht persönlich berührt, sondern es geht um die Kunst im Allgemeinen; und bei sowas fallen einem dann aber wirklich sämtliche Nippelpiercings ab. Wer HIP ignoriert, hat die Kunst nicht verstanden und gefälligst die Klappe zu halten, Herr Stöhn. Die Krux ist, daß die meisten Gegner (ich nenne sie jetzt mal bewußt so) einfach nicht wahrhaben wollen, daß "ihre" Musik damals so (oder ziemlich so) geklungen hat. Und um nichts anderes geht es. Ob einem das gefällt, steht auf einem völlig anderen Blatt Papyrus (oder einer völlig anderen eBook-Seite). Hinter HIP steckt immerhin eine ausgesprochen intensive und jahrelange Beschäftigung mit allen möglichen schier unerschöpflichen Quellen; Pianisten oder andere Musiker, die dessen ungeachtet ihr Ding drehen, verdienen zumindest meine Aufmerksamkeit nicht. Ich kann es nicht ernst nehmen, wenn jemand einfach etwas spielt, ohne sich mit den historischen Dokumenten befasst zu haben. Wenn man sich damit befasst hat und es begründet trotzdem anders macht, ist das etwas anderes - vgl. Harnoncourt oder Norrington. Auch das muß man nicht mögen, aber respektieren. Harnoncourt ist trotzdem ein Wicht :D

    Hochgradig begabte Musiker als "Schulorchester" abzustempeln ist auch nicht die feine Art - aber ich kenne solche Attacken bereits aus der "Familie". Die ärgern sich einfach, daß sie Jahre sinnlos mit dem Einüben von Vibrato vergeudet haben... *lol* - und es letztlich eigentlich gar nicht brauchen, aber diesen Umstand einfach wegignorieren und ihr Ding durchziehen. Meinetwegen - aber ohne mich. Ich bin mir auch in Klaren darüber, daß ich verzichtbar bin.

    An Deiner Stelle würde ich mich in keine Ecke drängen lassen, sondern zu Deinen Ansichten stehen. Es wäre extrem schade, wenn auch nur eine Seite (egal welche) Deiner Begabungen oder Interessen durch Einwirken anderer in den Hintergrund geräte. Ich höre auch HUP, dort wo es mir angebracht scheint, z.B. bei Mahler, Webern, Schostakowitsch. Und wenn es Werke dieser Komponisten auf historischen Instrumenten gespielt gibt, höre ich mir das aus Interesse am Klang auch an - und wenn es zehn Mal historisch falsch ist.

    Aber Du hast Recht: besagter Thread ist bereits auf Vera-am-Mittag-Niveau angelangt.

    :wink:

  • Zitat

    denn ich denke dass jede Interpretation und jeder Interpretationsansatz seine Berechtigung haben sollte, weil die Kunst ja letztlich frei ist.


    So und nicht anders :jubel::jubel::jubel:

    Ich mag sehr viele Interpretationsansätze, es gibt natürlich auch Einzelfälle die ich ablehne, aber meist aus interpretatorischen Gründen, nicht wegen der verwendeten Instrumente.

    Paradebeispiel ist die Couperin Aufnahme von Alexandre Tharaud

    Der Pianist beherrscht natürlich durchaus sein Handwerk, das steht völlig außer Diskussion, aber für die Musik Couperins hat er absolut NULL Verständnis, zumindest nach meinem Empfinden. Und französische Barockmusik ist ja nun nicht unbedingt nur ein Randgebiet für mich *flöt* Er interpretiert die Werke dermaßen frei, dass es im Grunde nur noch Improvisationen über Werke Couperins im Besten Falle sein könnten. Schon beim ersten Stück, dem berühmten „Barricades misterieuses“ geht die filigrane Struktur des Stückes völlig unter, er verändert den Rhythmus, das Tempo völlig willkürlich so dass man Mühe hat, das Stück überhaupt wieder zuerkennen. Als Neudeutung sehe ich das nicht, es nervt teilweise und ich tat mich schwer die ganze Aufnahme anzuhören. Von ihm gibt es ja auch noch eine Rameauaufnahme, die ich ebenfalls fürchterlich fand, es ist schlicht sein Stil der mir absolut gar nicht zusagt.

    Im Gegensatz dazu gibt es ja noch Angela Hewitt, die ebenfalls auf einem modernen Flügel spielt, eine völlig andere Welt, aber sie hat ein Gefühl für diese Musik. Zwar gelingen nun mal nicht alle Verzierungen auf dem Flügel, aber man kann es sich zumindest mit Genuss anhören.

    Wer mich kennt, weiß, dass ich eben kein HIP Dogmatiker bin, ich liebe alte Barockaufnahmen aus den 50er - 70er Jahren und sammle alte LPs. Ich liebe Bach auf dem modernen Flügel, besonders wenn es die Cembalokonzerte sind. Genauso das Weihnachtsoratorium unter Karl Richter - es gibt so wunderbar gemachte Interpretationen, ich lege mir da keine Grenzen auf.

    Was den Thread im Nachbarforum angeht, es sind halt die typischen Kommentare der altbekannten HIP Gegner, ich empfinde es als Zeitverschwendung über diese platte Polemik zu sprechen. Hier werden eingefahrene Hörgewohnheiten verletzt und daher abgelehnt. Man nennt es auch „Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht“...

    Sicher, Schoonderwoerds Beethoven Aufnahmen sind schon extrem radikal, jedem, dem ich das 5. Klavierkonzert vorgespielt habe, war zuerst einmal wie vor den Kpf geschlagen – aber dann fasziniert. Wie oft wurde drüben geschrieben, man hätte nur angespielt - ja das ist es eben, so ein oberflächliches "mal reinhören" berechtigt kaum zu einer Kritik der gesamten Aufnahmen. Und das hat etwas mit der eigenen Offenheit zu tun, in wie weit man fähig ist, sich auf etwas neues einzulassen. Aber wenn man sich z.B. die disqualifizierende Polemik in Bezug auf Regie-Theater an anderer Stelle ansieht, was im Grunde nichts anderes ist, kann man leicht erahnen, dass es einigen sehr schwer fällt, über ihren Tellerrand zu blicken. Im letzteren Fall (Regie-Theater) hat das Unverständnis und die Ablehnung aber auch oft mit mangelnder Bildung zu tun.

    Ich hab es auch schon erlebt, dass man die EROICA Aufnahme Savalls als „Provinzschulorchester“ abkanzelte. Ich denke, es erübrigt sich, über solche dummen Sprüche zu sprechen, sie entlarven ja nicht Savall sondern nur die eigene "Fachkenntnis" :beatnik: