Carl Philipp Emanuel Bach soll die unglaubliche Anzahl von 21 Passionen nach den vier Evangelisten komponiert haben. Hinzu gesellen sich drei Oster-Oratorien (Wq241 H805 von 1780, Wq242 H804 von 1778 und Wq243 H807 von 1784) sowie das Oratorium Die letzten Leiden des Erlösers Wq233 H776 von 1769. Die Passionen gelten heute zum größten Teil als durch Kriegswirren verloren, allerdings ist die nachfolgende Liste aus dem Wotquenne- resp. Helm-Verzeichnis nicht mehr brandaktuell, d.h. einige Passionen wurden inzwischen wiederentdeckt oder auf andere Weise rekonstruiert.
Passionen nach MARKUS
- H783, 1769/70 (verloren)
- H787, 1773/74 (verloren)
- H791, 1777/78 (verloren)
- H792, 1778/79 (verloren)
- H795, 1781/82 (nur in Bruchteilen erhalten)
- H799, 1785/86 (nur in Bruchteilen erhalten)
Passionen nach LUKAS
- H800 (Wq234), 1786/87 (teilweise verloren)
- H784, 1770/72 (verloren)
- H788, 1774/75 (verloren)
- H796, 1782/85 (nur in Bruchteilen erhalten)
Passionen nach MATTHÄUS
- H802 (Wq235), 1788/89
- H782, 1768/69 (
verloren) - H786, 1772/73 (verloren)
- H790, 1776/77 (nur in Bruchteilen erhalten)
- H794, 1780/81 (
verloren) - H798, 1784/85 (nur in Bruchteilen erhalten)
Passionen nach JOHANNES
- H785, 1772/72 (
verloren) - H789, 1775/76 (verloren)
- H793, 1779/80 (verloren)
- H797, 1783/84 (nur in Bruchteilen erhalten)
- H801, 1787/88 (teilweise verloren)
Da von den als verloren geltenden Werken auch inhaltlich wenig bekannt ist, lässt ich nur vermuten, daß es sich jeweils nicht unbedingt um vollständige Neukompositionen handelt, sondern daß Bach (wie auch sein Vater und viele seiner Zeitgenossen) oftmals das sogenannte Parodieverfahren anwandte. Das heißt, daß der Komponist bereits zuvor komponierte Kantaten (die ggfs. einem anderen Anlass dienten) für den Zweck der Passion umarbeitete oder zusammenstellte. Dem Oster-Oratorium Wq242 H804 stellte er beispielsweise auch das bekannte "Jauchzet, frohlocket!" des Vaters (BWV 248) voran. Möglicher Weise hat Carl Philipp Emanuel auch innerhalb der einzelnen hier gelisteten 21 Passionen Teile oder ganze Werkblöcke mehrfach verwendet und nur für das neue Jahr die ein oder andere Neukomposition untergebracht. Die Tatsache, daß Bach in den Jahren 1768 bis 1788 lückenlos jedes Jahr mit einer "neuen" Passion aufwartete, lässt diesen rein spekulativen Rückschluß jedenfalls zu. Es lässt sich auch - mit einer einzigen Ausnahme! - eine konsequente rotierende Abfolge der Evangelisten feststellen:
MAT (1768) - MAR (1769) - LUK (1770) - JOH (1771)
MAT (1772) - MAR (1773) - LUK (1774) - JOH (1775)
MAT (1776) - MAR (1777) - MAR (1778) - JOH (1779)
MAT (1780) - MAR (1781) - LUK (1782) - JOH (1783)
MAT (1784) - MAR (1785) - LUK (1786) - JOH (1787)
MAT (1788)
Diese Anomalie im Jahr 1778 bedarf noch weiterer Klärung. Wurde ggfs. die 1777er Markus-Passion aus noch zu klärenden Gründen nicht aufgeführt und ist evtl. mit der 1778er identisch? Da beide Passionen heute "verloren" sind, muß das wohl zunächst Spekulation bleiben. Weiterhin darf m. E. gefragt werden, ob die nur in Bruchteilen erhaltenen resp. teilweise verlorenen Passionen insofern doch als vollständig zu betrachten sind, als sie lediglich die neu komponierten Teile darstellen (vgl. These w.o.) und die übrigen Teile durch Ausschnitte älterer Passionen ergänzt wurden (oder, daß - wie im Falle der Lukas-Passion H800 - die heute verlorenen Teile einer späteren Passion angereiht wurden und nur deshalb "fehlen")?
Wie erklärt sich außerdem die Doppelbelegung im Jahr 1769 (Markus-Passion H783 vs. Die letzten Leiden des Erlösers H776)? Bei den drei o.g. Oster-Oratorien (1778, 1780 und 1784) liegt es auf der Hand, daß diese natürlich nicht am Karfreitag, sondern an einem oder an beiden Ostertag(en) gespielt wurden, während den Passionen der Karfreitag vorbehalten war (?).