Für mich gilt: weniger Dogma, mehr persönliche Vorliebe.
Das geht mir im Prinzip ähnlich. Im Vordergrund hat für mich bislang immer die Interpretation gestanden. Für eine musikalische Interpretation spielt tatsächlich nicht nur der Notentext eine Rolle, ansonsten wären (bei hypothetischer perfekter Nachahmung des Klangs) Computer die besten Interpreten. Ulli hat an anderer Stelle deutlich gemacht, dass für ihn der Klang im Vordergrund steht. Den Klang finde ich auch wichtig, in der Regel sagt mir ein Hammerklavier mehr zu als ein moderner Flügel etc., der Klang ist reicher. Auch mag ich kein übermäßiges Vibrato, deutlichen Hall finde nur dann akzeptabel, wenn er mit der Funktion des Stückes in Zusammenhang gebracht werden kann (Aufführungen geistlicher Stücke), das gilt aber für und gleichermaßen. Die klangliche Gestaltung ist aber aus meiner Sicht nur ein Teil der Interpretation und sie ist nicht das, was mich grundsätzlich vor allem anderem interessiert. Ausführende Musiker, die ja wie am bekannten Beispiel Mahler ersichtlich, häufig auch Komponisten sind, haben sich nicht erst in den letzten 50 Jahren über Authentizität im dem Sinne Gedanken gemacht, wie sie die Absicht des Komponisten am ehesten verwirklichen konnten. Zu Zeiten romantischer Orchesterapparate hat Mahler beispielsweise die Bläser verstärkt, um für einen Ausgleich gegenüber den Streichern zu sorgen. Das sehe ich letztlich dann auch als Bearbeitungen, die ihre Berechtigung haben. Wenn ein Dirigent, wie ich das zum Teil Karajan unterstelle, in erster Linie an Schönklang interessiert ist, oder wenn ein Dirigent, wie ich das bösartigerweise Thielemann unterstelle, in erster Linie eine bestimmte Publikumserwartung bedient, dann wird das für mich uninteressant, manchmal sogar unangenehm.
Was ich aber fast genauso unterinteressant finde, ist das Bestreben einen vermeintlichen historischen Originalklang zu restaurieren. Glücklicherweise denke ich, dass die Mehrzahl heutiger HIP-Interpreten - bewusst oder unbewusst - weit davon entfernt ist, solches zu tun. Wie die Beethoven-Sinfonien am Ort und am Tag ihrer Uraufführung geklungen haben, werden wir nie errfahren. Das ist insofern kein Beinbruch, weil die Sinfonien nicht geschrieben wurden, um nur einmal und nur an diesem Ort aufgeführt zu werden. Die Klaviersonaten dürften auch für alle möglichen Tasteninstrumente gedacht gewesen sein, und da haben manche einen für mich interessanteren und andere einen für andere interessanteren Klang. Ich glaube nicht, dass es irgendwelche Hinweise darauf gibt, Beethoven oder andere hätten etwas dagegen einzuwenden gehabt, wenn andere Klaviere als bei der Uraufführung zum Einsatz kommen sollten. Analog gilt das für andere Instrumente, aaaber, es geht dennoch darum, den Geist der in die Musik hineinkomponiert wurde, lebendig werden zu lassen. Wenn es nur darum ginge, historisch Gewesenes zu rekonstruieren und zu konservieren, fände ich das todlangweilig.
Neulich meinte ich im Radio gehört zu haben René Jacobs würde historisierende Interpretationen von Barockopern vorziehen. Daraufhin habe ich mal im Internet gesucht und folgende Aussage gefunden :
ZitatRené Jacobs: Man muß da differenzieren. Es ist gefährlich zu sagen: Ich liebe nur diesen Typ von Inszenierung. Das Publikum erwartet wahrscheinlich von mir, daß ich nur historische Rekonstruktionen liebe. Aber das ist überhaupt eine fixe Idee, die das Publikum oft hat, daß man alte Instrumente benutzt, weil man rekonstruieren möchte. Das ist überhaupt nicht der Fall. Ich benutze die alten Instrumente, weil die Musik dadurch neuer klingt und lebendiger nicht unbedingt wegen der Instrumente, aber wegen der Spieler, die die musikalische Sprache meistens besser verstehen als die, die auf modernen Instrumenten spielen. Und in diesem Sinne kann ich auch nicht sagen, daß mir nur eine historisierende Regie gefällt. Ich habe die Zusammenarbeit mit Wernicke damals sehr geliebt. Ich wußte natürlich von vornherein, daß das eine moderne Regie sein würde – ausgehend von einem Konzept, bei dem ich vielleicht mit einzelnen Details nicht einverstanden sein würde. Barockoper auf die Bühne zu bringen, ist nicht unproblematisch, aber – es gibt vielleicht dennoch ein Gesetz: Daß nämlich der Regisseur, was er auch macht, historisierend oder nicht, die Musik versteht. Dann kann eigentlich nichts schiefgehen.