Liebes Forum,
ich will hier mal versuchen, darüber nachzudenken, wieso mich ausgerechnet die Barock-Oper (speziell auch die des 17. Jahrhunderts) so sehr in ihren Bann geschlagen hat. Das wird wahrscheinlich zwar eher subjektiv/persönlich gefärbt sein, aber das soll bitte niemanden daran hindern, "mitzudenken". Auch Argumente, weshalb man die Barockoper eigentlich nicht lieben sollte, oder alles, was euch dazu durch den Kopf geht, sind willkommen.
In letzter Zeit gab es mehrere Erlebnise bei mir, die mich zu diesen Gedanken angestoßen haben. Das tiefgehende Glücksgefühl, das mir die Monteverdi-Trilogie und die Xerxe-Inzenierung in der Komischen Oper Berlin eingeflößt haben. Die ebenso große Beglückung, als ich endlich Lullys Amadis auf CD gehört habe und den Inhalt der herrlichen Spielkiste der Ariadne von Conradi durchwühlt habe.
Die Xerxes-Inzenierung, die ich zwei mal gesehen habe (und ich will unbedingt noch mal rein, wenn er nächste Spielzeit noch mal laufen sollte), hat viel dessen sichtbar gemacht, was Barockoper ausmacht: Kostümpomp, Bühnenmaschinerie, eine anmutige Mischung aus Komischem, Tragischem und Galantem (vom mir aus auch Erotischem), die unschuldige Freude an musikalischem Witz und Virtuosität, und der absolute, über allem stehende Wille zu unterhalten. Seit ich im Xerxes war, verstehe ich, wieso sich barocke Fürsten oft beinahe ruiniert haben, jedenfalls unglaubliche Summen verschleudert haben, nur um sich ihre Oper zu leisten. Diese (oft) so unendlich geschmackvolle Mischung aus Spektakel und Musik besitzt einen unglaublichen Glanz, der das schmerzliche Bedürfnis nach Eskapismus auf eine Weise zu lindern weiß wie sonst nur wenig.
Das liegt aber auch daran, dass die Barockoper ziemlich absolut der Welt enthoben ist. Bis auf wenige Ausnahmen interessiert sie sich nicht für Realweltliches, sondern feiert verschiedene Varianten des unwirklichen Arkadien. Oft kommt mir der Gedanke, dass sie einfach nur die barocke Entsprechung des Revue-Theaters im Stile des Friedrichstadtpalasts ist, doch ecke ich mit diesem Gedanken bei mir selbst an, weil solche Revuen inhaltlich viel zu banal und insgesamt enorm langweilig sind, und das sind die meisten Barockopern trotz aller Unterhaltungsmanie ja nicht. Bei all ihrem Hang zur "leichten Kost" haben sie ja doch etwas Erhabenes und Erhebendes.
Warum finde ich es so spannend, dass mir ein Künstler nichts sagen will? Denn darin unterscheidet sich der Xerxes vom Parsifal. Die Oper nach dem Barock geht immer mehr dazu über, Aussagen zu treffen, dem Publikum etwas zuzumuten, Ausdruck eines individuellen Künstlers zu sein. Das fängt bei Mozarts genialen sozialkritischen und psychologisierenden ja schon an. Das alles spielt bei Lully oder Händel keine Rolle. Brillanter Einsatz der Affekte-Klaviatur ja, aber keine Psychologisierung. Wie sonst wäre es möglich, Arien und Stücke aus anderen Werken zu klauen?
Dazu erst einmal so viel.
Eine Bemerkung nur noch zu einem anderen Gedanken, der mich gerade umtreibt. Vor einiger Zeit haben wir die DVD-Aufzeichnungen einer Inszenierung von Cadmus et Hermione von Lully gesehen. Diese ist bis in die Gesten und Haltungen der Darsteller mehr oder weniger historisch exakt rekonstruiert. Nun predigen ganze Legionen von Intendanten und Regiesseuren und auch Opernfreunden, dass reine Rekonstruktion aus künstlerischer Sicht vollkommen sinnfrei wäre, dass es gälte, den alten Inhalten neue Ausdrucksformen zu verpassen, die Werke dadurch zu aktualisieren usw. Ihr wisst schon.
Als ich aber diese Inszenierung sah, musste ich feststellen, dass ich die Geziertheit, das Formelhafte, das offensichtlich "Maschinelle", die naiven, durchschaubaren Effekte und all das im Grunde viel anregender und moderner, zumindest abstrakter fand als zum Beispiel das ermüdende auf den Boden Werfen der Darsteller in Koskys Odyyseus in der Monteverdi-Trilogie.