Einmal mehr hat Ludwig van Beethoven, der Schöpfer der Schutzpatronin unserer kleinen Online-Welt, mit seiner Neunten Sinfonie ungeschriebene Regeln gebrochen und - bis dahin nie dagewesenes - Neues geschaffen: Eine Sinfonie mit Gesang. Interessantes Thema für einen separaten Thread wäre m. E., ob es bereits vor Beethoven Versuche oder Ergebnisse gab, bei denen Gesang in einer Sinfonie praktiziert wurde? Oder welche Sinfonie welches Komponisten die erste postbeethovensche Chorfinal-Sinfonie gewesen ist? Mendelssohn? Mahlers Zweite? Oder doch eine (unbekannte) andere?
Für mich persönlich war diese Idee des großen Ludwig van schon immer eine Besondere, Bemerkenswerte und enorm Große. Allerdings geht es mir hier stets ähnlich wie bei der Missa solemnis: ich halte - oder besser: hielt - die Neunte, speziell deren Finale, stets für reine Kopfmusik, die nicht in realiter umsetzbar war. Es gibt verschiedene "Stellen" in der Komposition des Finales, die ich lesender Weise für die größte Musik hielt (und noch halte: z.B. das Sopran-Solo über dem Chor, der Knödel-Tenor gleich zu Beginn oder das Gejodel des Solisten-Quartetts, jeweils als Tenor-/Bass- und Sopran-/Alt-Duo im Allegro ma non tanto)... allein die Ausführung ließ mich immer wieder auf den Boden der Tatsachen zurückkehren: unaufführbar, da es einfach grauenhaft klingt. Ich schob diese Erfahrung immer wieder darauf, daß Beethoven ja vollständig taub war und nicht mehr genau wusste, was er tat... das ist, zugegeben, ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt (aber ich befinde mich sehr oft im freien Fall und nehme auch diese Bürde auf mich).
Alle Jahre wieder startete ich einen weiteren Versuch, durch neue Einspielungen meine Theorie zu wiederlegen. Den blutigen Weg pflasterten viele Aufnahmen, die allesamt natürlich hervorragend waren, aber niemals DAS wiederzugeben vermochten, was (für mich) auf dem unbescholtenen Papier stand. Darunter natürlich auch die Aufnahmen von Jos van Immerseel und Christoph Spering:
Durch einen Zufall drang am diesjährigen Nikolaustag Sir Roger Norringtons Interpretation ausschnittweise an mein gekränktes Ohr - in einer Radiosendung des SWR2, die Beethovens Konversationshefte zum Thema hatte, wurde der Schluss der Interpretation der Neunten mit den London Classical Players gesendet - diese Aufnahme befindet sich im Rahmen der GA sämtlicher Beethoven-Sinfonien schon lange in meinem Besitz. Offenbar habe ich auch hier das Finale aufgrund unguter Erfahrungen stets gemieden.
Mir war nicht ganz klar, ob ich wachte oder träumte? Ich glaubte jedenfalls zu hören, was (für mich) auf dem Papier stand und ich stets für reine Kopfmusik hielt: plüschfreie Pauken, einen ernst zu nehmenden Tenor mit weiser und sonorer Stimme, ein ekstatisches Sopran-Solo über dem Chor und sphärische - nicht nervtötende - gehaltene vibratolose ganze Noten im Chor-Sopran, freudetrunkenes Solisten-Quartett und eine stets vorwärtsdrängende Rhythmik, die atemberaubend ist und im finalen Orgasmus endet. WOW!
Yvonne Kenny, Sarah Walker,
Patrick Power, Petteri Salomaa
The Schütz Choir of London
The London Classical Players
Sir Roger Roger Norrington
Besonders hervorzuheben ist u.a. (z.B. auch im 2. Satz) der krasse Klang der Hörner, im Finale die extrem gut hörbaren Holzbläser, die z.T. in einer Art kontrapunktisch einwirken, das ziemlich "türkisch" klingende Schlagzeug und die hervorragend ausgeführte Stelle "Und der Cherub steht vor Gott" - für mich eine Parallele zu Mozarts Lacrymosa... (deutlich abgesetzte Silben!).
Für mich ist dies nun endlich der musikalische Gegenbeweis meiner gewagten (Ex-)Theorie... dennoch gilt für mich nachwievor: die meisten können es nicht.