03 - ...ac Vespere pluribus decantandæ, cum nonnullis sacris concentibus (1610) "Marienvesper"

  • Große Werke haben öfters etwas mysteriöses an sich. Sie faszinieren uns und werfen Fragen auf, auf die die Antworten oft vergeblich gesucht werden. Auch die berühmte "Marienvesper" steht vor uns als ein Monument der Musikgeschichte, das man vielleicht nur staunend und wortlos bewundern kann.

    Erschienen ist dieses gewaltige Werk als "Bonus" zur sechstimmigen Missa "in illo tempore" in 1610. Die Probleme beginnen aber schon mit dem Wort "Werk"... zwar trägt das Ganze (um ganz neutral zu formulieren) im Stimmbuch "Bassus generalis" ganz klein gedruckt den (heute üblichen) Titel:

    Vespro della B[eata] Vergine da concerto, composto sopra canti fermi

    Auf dem Titel wird schlicht über Vespere pluribus decantandae (also eine vielstimmige Vesper) cum nonnullus sacris concentibus ad Sacella sive Principum Cubicula accomodata (mit einigen Concerti für die Kapelle oder die Kammer der Fürsten geeignet) angegeben. Die Sammlung besteht nämlich aus folgenden Stücken, in folgender Anordnung (abzulesen im Bassus generalis Stimmbuch):

    1 Responsorium: 'Domine ad adiuvandum me festina' ('Sex vocibus et sex instrumentis')
    2 Psalm 109: 'Dixit Dominus' ('Sex vocibus et sex instrumentis')
    3 Geistliches Konzert: 'Nigra sum' ('Motetto ad una voce')
    4 Psalm 112: 'Laudate pueri' ('a 8 voci sole nel organo')
    5 Geistliches Konzert: 'Pulchra es' ('a due voci')
    6 Psalm 121: 'Laetatus sum' ('a sei voci')
    7 Geistliches Konzert: 'Duo Seraphim' ('a due voci' ... 'a tre voci')
    8 Psalm 126: 'Nisi Dominus' ('a dieci voci')
    9 Geistliches Konzert: Audi coelum ('Prima ad una voce sola, poi nella fina a 6 voci')
    10 Psalm 147: 'Lauda Jerusalem' ('a sette voci')
    11 'Sonata sopra Sancta Maria a 8'
    12 Hymnus: 'Ave maris stella' ('a 8')
    13 'Magnificat' ('sette voci & sei instrumenti')
    14 'Magnificat' ('a 6')

    Problematisch ist in erster Linie die liturgische Stelle der geistlichen Konzerte: die Psalmen werden in der Vesper-Liturgie sonst von Antiphonen eingerahmt, diese Konzerte entsprechen aber keinem Proprium eines Marienfestes. Man hat versucht, den Festtag der Hl. Barbara (welcher der Dom in Mantua geweiht ist) ins Feld zu rufen, da dann das die Hl. Dreifaltigkeit preisendes "Duo Seraphim" einen Platz hätte: dann stimmt aber die Sonata mit ihren Marienrufen nicht. Und auch sonst entsprechen die Texte von "Nigra sum" und "Pulchra es" nicht denen der entsprechenden Antiphonen, und sogar: die müssten auch nicht in dieser Reihenfolge stehen (Paul McCreesh hat sie deswegen auch umgestellt) - und "Audi coelum" bleibt auch so Fehl am Platz. Da aber das Titelblatt diese Stücke getrennt nennt: ist es möglich, dass die Konzerte nicht als Bestandteil der Vesper angesehen worden sind? Wieso stehen sie dann nicht ganz am Ende des Druckes, getrennt von den Psalmen?

    Und es kommt noch schlimmer: die Psalmen haben eine recht verschiedene Besetzung: ist die Vesper nun als ein unantastbares Ganzes anzusehen, oder als nur lose angefügte verschiedene Psalmen und Sätze für eine Vesper (die also frei mit Werken von anderen Komponisten gepaart werden können, je nach Belieben)? Einfacher: handelt es sich dabei um Sätze eines Ganzen, oder um eigenständige Werke? Eins ist sicher: Responsorium, die Psalmen, Hymnus, Sonata und Magnificat verbindet, dass sie alle "sopra canti fermi", also über den jeweiligen Cantus Firmus gesetzt sind (bei Psalmenkompositionen soll das damals eher unüblich gewesen sein). Eine großartige Konzeption - aber auch da ist Vorsicht geboten:

    Das "Magnificat" gibt es zweimal: ein kleineres, sechstimmiges nur mit Orgelbegleitung, und dieselbe Komposition für sieben Stimmen und weitere Instrumente überarbeitet. Man hat herausgefunden, dass wahrscheinlich die 'kleinere' Version die frühere ist, die 'größere' vermutlich nur für den Druck entstand. Das legt aber die Vermutung nahe, dass die Kompositionen zu verschiedenen Zeiten entstanden sind, was die eben beschriebene vorgefasste Konzeption fragwürdig erscheinen lässt. Fast sicher ist also, dass die "Marienvesper" nur für den Druck entstand, und kein "festgehaltenes" Werk des mantuanischen Domes darstellt.

    Paolo Fabbri verweist in seinem Buch über Monteverdi darauf, dass Monteverdi damals kein Kirchenkapellmeister war, der ein Compendium von frei ausbeutbaren Stücken gebraucht hätte (wie er später, als er schon Kapellmeister in Venedig war, durchaus angelegt hat in seinem "Selva morale et spirituale"). So waren ihm vielleicht liturgische Fragen garnicht wichtig; was er aber mit seiner Sammlung zeigen wollte: eine möglichts prächtige und ansprechende Sammlung darzulegen, in der alle Facetten der damaligen Kirchenmusik zur Geltung kommen und seine ganze Meisterschaft damit gezeigt werden kann (Parodiemesse, konzertante Psalmen, Hymnus und Magnifcat über Cantus firmi, kleinbesetzte geistliche Konzerte im modernen monodischem Stil, Kirchensonate über einem Cantus firmus). Die Sammlung war ja nicht umsonst Papst Paul V. gewidmet: Monteverdi hat sich dabei sicher etwas erhofft; und auch später, bei seiner Bewerbung in Venedig, ist ihm die Sammlung gut bekommen. Man hat deshalb auch von einer "musikalischen Visitenkarte" gesprochen.

    Etwas zugespitzt ausgedrückt ist also die "Marienvesper" in der Form, wie man sie heute kennt, wie es im Druck steht, ein "Phantasieprodukt". Keine liturgische Vesper für einen konkreten Tag, sondern eine "Vesper par exellence" - und in dem Sinne auch eine Verherrlichung der gegenreformatorischen Kirche. Nun, wer jetzt denkt, endlich sind alle Probleme aus dem Weg geräumt, täuscht sich...

    Diese "Phantasievesper" versucht man ja auch aufzuführen und die Frage nach dem liturgischen Gebrauch stellt sich damit nochmals: die Vesper hat nunmal ihren Platz in der Liturgie und nicht im Konzertgebrauch, und zu den Zeiten von Monteverdi war das sicherlich verstärkt der Fall.

    - Einige wählen dann doch den Weg, die Vesper als "Werk" aufzufassen, eben als "Vesper par excellence" und führen sie in der Reihenfolge der Stücke auf, wie sie geschrieben ist, ohne Antiphonen. Mir ist diese Variante die sympathischste.
    - Andere versuchen eine liturgisch korrekte Vesper jener Zeiten zu rekonstruiren und stellen deshalb einige der Stücke um, lassen andere weg, füllen mit Kompositionen anderer Komponisten auf. Am meisten konsequent in dieser Richtung war Paul McCreesh.
    - Und es gibt dann eine - leider? - sehr verbreitete Lösung, einerseits die Reihenfolge der Stücke zu bewahren (oder nur leicht verändern) und die Psalmen mit Antiphonen einzurahmen. Leider kann mich diese Vorgehensweise liturgisch und musikalisch nicht ganz überzeugen.

    Damit ist aber immer noch nicht genug: auch hier stellt sich - wie bei Barockwerken öfters - die schwierige Frage der Besetzung. Ganz ehrlich: die Frage stellt sich eigentlich nicht. Die Angaben Monteverdis sind doch eindeutig: "für sechs Stimmen und sechs Instrumente", "acht Solostimmen mit Orgel", usw.

    WENN man also die Vesper als Ganzes auffast, und meint, es gälten die selben Vorschriften für alle Stücke, dann wäre alles klar:
    - alle Stücke sind solistisch zu Besetzen,
    - als Bc. dient eine Orgel.
    WENN man sie so auffast, und das meint.

    Und das ist immer noch nicht alles: wie schon gesagt, sind auch die groß angelegten Stücke ganz verschiedentlich besetzt - sowohl vom Vokalconsort her, aber vor allem, was die instrumentale Begleitung angeht. Mehr als nur die Continuostimme haben ja nur das Responsorium, "Dixit Dominus", das Hymnus und das 'große' "Magnificat". Die anderen sind nur für Singstimmen und Bc. gedacht. So steht es zumindest in den Stimmbüchern.

    Nun, viele moderne Interpreten denken sich dabei: was machen die Instrumente, während sie keine eigene Stimmen zu spielen haben? Die Antwort kommt schnell: sie spielen colla parte. Nun, das geht mit dem damaligen Praxis konform, doch: in den Noten steht nichts darvon geschrieben. Neuerdings gibt es also vermehrt auch Einspielungen, wo keine Stimmen mehr verdoppelt werden und nur dort Instrumente erklingen, wo Monteverdi das auch vorgemerkt hat. In der Konzertpraxis dürfte das nur schwer durchzuführen sein: ich habe gelesen, die Instrumentalisten hätten es schwer, so lange still zu sitzen... naja, bei einer "Phantasievesper" ist das ja kein Problem...

    Dann gibt es da noch das Problem der Blockflöten, die für eine kurze Passage im "großen Magnificat" zu Wort kommen, deshalb sie in manchen Aufnahmen auch dort anzutreffen sind, wo sie sonst nicht angemerkt sind (meistens verdoppeln sie die Violinen)...

    Man staunt über diese Besetzungfragen bei einem Werk, wo der Komponist sogar die Registrierung der Basso-continuo-Orgel angibt (im "Magnifcat")...

    Und es ist wahr: je mehr man über die "Marienvesper" erfährt, desto größer wird das Mysterium um sie. Und die Fragen, die ihre Größe, ihre Erhabenheit aufwirft, wurden noch gar nicht behandelt. Gehört auch nicht hierher - dies sind ja Fragen jenseits der Sprache: sie sind das Schaudern vor einer unvorstellbaren Genialität, davor, dass einige Zeichen in vermoderten Büchern zum Leben erweckt so direkt und lebendig zu uns sprechen, als wären sie erst gestern zur Papier gebracht worden.

    Alle Wege führen zum Bach,
    .................................... wo der kleine Biber lebt!

  • Die Originalstimmbücher findet man auf imslp.org:

    http://imslp.org/wiki/Mass_and_…verdi,_Claudio)

    Partituren sämtlicher Sätze auf cpdl.org:

    http://www1.cpdl.org/wiki/index.php…dio_Monteverdi)

    oder in seiner eigenen Edition auf der Seite von John Kilpatrick:

    http://www.johnkilpatrick.co.uk/music/1610/

    LG
    Tamás
    :wink:

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  • Guten Tag

    Man hat versucht, den Festtag der Hl. Barbara (welcher der Dom in Mantua geweiht ist) ins Feld zu rufen, da dann das die Hl. Dreifaltigkeit preisendes "Duo Seraphim" einen Platz hätte: dann stimmt aber die Sonata mit ihren Marienrufen nicht

    Interessanterweise wurde in einem Breslauer Exemplar von Monteverdis Sanctissma Virgini Missa senis vocibus die Akklamation "Sancta Maria ora pro nobis" der Sonata sopra sogar handschriftlich in "Jesu, du Heiland, erbarm dich unser" umgedichtet um sie für den evangelischen Gottesdienst verwendbar zu machen, dachte Monteverdi doch multifunktional ?

    Zitat

    Die Sammlung war ja nicht umsonst Papst Paul V. gewidmet: Monteverdi hat sich dabei sicher etwas erhofft;

    Monteverdi erhoffte sich bei dieser Gelegenheit auf einen Freiplatz im "Seminario Romano" für seinen Sohn Francesco, auch hier ein Fehlschlag. Die Empfehlungsschreiben der Kardinäle Borghese und Montalto, die Monteverdis Kunst durchaus zu schätzen wussten, halfen da nichts. Die Vesper war womöglich überhaupt nicht für Rom oder gar Venedig geschrieben, sondern für Mantua komponiert, eine Verbindung zwischen der Vesper und L´Orfeo -z.B. durch die einleitende Toccata, eine Gonzagafanfare ?- wird hergestellt. Teile der Vesper könnten schon um 1607 geschrieben worden sein. Spekuliert wird auch, dass die Vesper -oder Teile davon- an einen bestimmten Anlass, nämlich einen öffentlichen Gottesdienst in Mantua am 25. Mai 1608 aufgeführt wurde. Dieser Gottesdienst am Hofe der Gonzagas war Teil der großen Feierlichkeiten anlässlich der Vermählung von Prinz Francesco mit Margherita von Savoyen.

    Zitat

    Dann gibt es da noch das Problem der Blockflöten, die für eine kurze Passage im "großen Magnificat" zu Wort kommen, deshalb sie in manchen Aufnahmen auch dort anzutreffen sind, wo sie sonst nicht angemerkt sind (meistens verdoppeln sie die Violinen)...

    Den kurzen Blockflötenpart werden die Zinkenisten geblasen haben, die hatte ja gerade Pause und Blockflöte beherrschten sie bestimmt.

    Zitat

    Und es ist wahr: je mehr man über die "Marienvesper" erfährt, desto größer wird das Mysterium um sie.

    Der amerikanische Monteverdi forscher Denis Arnold meinte hierzu:

    " Zweifelsohne bergen alle Berufe besondere Gefahren. Für den Monteverdiforscher besteht die Hauptgefahr sicherlich in der Beschäftigung mit der Marienvesper, sie ist sozusagen eine Art musikwissenschaftliche Loreley "

    Da hatt er recht.

    Gruß :wink:

    aus der Kurpfalz

    Bernhard

    «Es ist wurscht, ob das jemand versteht, aber es muss gesagt werden» (Samuel Beckett)

  • Es gibt ein sehr gutes Buch über die Merienvesper Monteverdis, das ich wärmstens für jeden Freund dieser Musik empfehle:

    John Whenham: Monteverdi - Vespers (1610)

    Whenham bricht die Lanze für eine solistische Interpretation ohne colla-parte-Instrumente - dabei ist er sehr überzeugend.
    :jubel:

    LG
    Tamás
    :wink:

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