Ich starte mal einen Thread zu den Gesamteinspielungen von Bruckners Sinfonien. Da ich nur zwei Gesamteinspielungen besitze, beschränke ich mich auch im Wesentlichen auf diese mit starkem Schwerpunkt auf der neuesten Gesamteinspielung von Mario Venzago. Ergänzungen, insbesondere was die Referenzaufnahme von Günther Wand betrifft, wären also höchst wünschenswert.
Ich habe so ziemlich von Beginn meiner intensiveren Beschäftigung mit klassischer Musik Bruckners Sinfonien gehört, habe sie eine nach der anderen gehört, immer mehrfach. Dabei habe ich mich zunächst auf eine Gesamteinspielung beschränkt, die von Eugen Jochum mit dem Symphonie-Orchester des Bayerischen Rundfunks und den Berliner Philharmonikern, was soweit ich mich erinnere mein erster CD-Kauf gewesen sein dürfte (davor war ich noch bei LPs), sicher eine der Referenzaufnahmen;
Jochum hat eine zweite Gesamteinspielung vorgelegt mit der Staatskapelle Dresden, die zuletzt bei Brilliant erschienen ist:
Darin finden sich alle 10 Sinfonien (mit der Nullten). Die zweite allgemein anerkannte Referenzaufnahme von Günter Wand habe ich nie besessen, immer wenn ich die Aufnahmen von Wand gehört habe, haben sie mich etwas enttäuscht, ich fand in der Vergangenheit zumindest, dass sie hinter Jochum zurückbleiben, bin mir aber bewusst, dass das eine sehr persönliche Sichtweise ist.
Dabei ist Bruckners Fünfte, vielleicht meine Lieblingssinfonie von Bruckner, ein wichtiger Anhaltspunkt für meine Bewertung. Jochum lotet die Extreme aus: Die Pizzicato der Celli und Bässe zu Beginn sind bei Jochum kaum hörbar. Heute besitze ich von Wand eine Aufnahme der Vierten mit dem Kölner RSO und eine späte Einspielung der Fünften mit den Berliner Symphonikern. Beide begeistern mich nach wie vor nicht, womit ich wohl ziemlich alleine stehe.
Seit kurzem habe ich mir eine zweite Gesamteinpielung von Bruckners Sinfonien zugelegt. Das ist die cpo-Gesamteinspielung unter Mario Venzago mit verschiedenen Orchestern. Die Nullte, die Erste und die Fünfte spielt die finnische Tapiola Sinfonietta, ein kleines Orchester das auf die Musik der Wiener Klassik sowie auf Moderne und zeitgenössische Musik spezialisiert ist.
Die Zweite spielt die Northern Sinfonia, das (Kammer-)Orchester des Sage Gateshead, eines von Norman Forster entworfenen Musikzentrums im Nordosten Englands mit vielseitigem Repertoire zu dessen ersten Dirigenten Mario Venzago zählt.
Die Dritte, Sechste und Neunte spielt das Berner Symphonieorchester, dessen Chefdirigent seit 2010-11 Venzago ist.
Die Vierte und Siebte spielt das Sinfonieorchester Basel, dem Venzago zuvor vorstand, die Achte das Konzerthausorchester Berlin (ehemals Berliner Sinfonie-Orchester).
Die Cover finde ich übrigens auffallend schön, sehr umfangreich und informativ sind die Texte der Booklets.
Diese Einspielung der – einschließlich der Annullierten (Nullten) und unvollendeten Neunten – 10 Sinfonien Bruckners weist einige Besonderheiten auf: Die auffallendste äußerliche Besonderheit wurde schon genannt: Das Konzept fünf verschiedene Orchester spielen zu lassen, was, laut Venzago mit der zweiten konzeptuellen Idee zusammenhängt, eine zeitgemäße Bruckner-Interpretation abzuliefern und diese in kurzer Zeit zu vervollständigen; diese Sichtweise erhebt nach Venzago nicht den Anspruch einer zeitlosen Gültigkeit. Die dritte Idee, die wiederum mit den wechselnden Orchestern korrespondiert besteht in dem Anspruch, jede Sinfonie in ihrer Einzigartigkeit erlebbar zu machen, also dem sehr alten Bruckner-Klischee entgegenzuarbeiten, er habe eigentlich nur eine einzige Sinfonie geschrieben. Dieses Klische, so meint Venzago, werde durch Deutungen unterstützt, in denen die Sinfonien einem vermeintlich zeitlosen wuchtigen und schwer schreitenden 'Bruckner-Klang' unterworfen werden. Einer solchen Absicht dürften die wenigsten Dirigenten gefolgt sein, allerdings arbeitet Venzago ihr eben durch verschiedene Mittel gezielt entgegen.
Andere Besonderheiten von Venzagos Einspielung liegen in seiner grundsätzlichen Betonung historischer Informiertheit. Venzago berücksichtigt die Besetzungsstärke, die Bruckner für die Aufführung der frühen Sinfonien zur Verfügung stand und er macht sich Gedanken über das Klangideal und die Spielweise der Bruckner-Zeit. Dies umso mehr, da Bruckners Angaben in den Sinfonien sehr knapp und pauschal ausfallen und er dem Interpreten dadurch viele Freiheiten lässt.
Hier liesse sich noch mehr aufzählen, z. B. Venzagos Orientierung an Bruckners katholischer Marienfrömmigkeit. Darin unterscheidet er sich z. B. von Roger Norrington, allerdings werden die Sinfonien dadurch in Venzagos Darstellung aus meiner Sicht nicht sakraler in ihrer Wirkung als bei anderen Interpreten. Venzago bemüht sich lediglich darum, auch dem religiösen Subtext nachzuspüren, so wie ein Mahler-Interpret Mahlers Programme seiner Sinfonien als Inspiration heranziehen mag.
Entscheidend ist aber die Wirkung, die Venzago erzielt und die erlebe ich als ungemein lebendig und beseelt. Für meinen Geschmack tut die kammermuskalische auch in der Dynamik und mit dem Einsatz von Rubato sehr differenzierte Spielweise Bruckners Sinfonien ganz besonders gut. Andere Rezensenten stören sich an seiner vermeintlichen Zurückhaltung. Tatsächlich dämpft Venzago die aus anderen Interpretationen bekannten Blechlawinen. Ein Fortissimo ist in seiner Sichtweise zur Bruckner-Zeit etwas anderes gewesen, als es in der Tradition des zwanzigsten Jahrhunderts mit der instrumentalen Aufrüstung geworden ist. Was mir aufgefallen ist, sind tatsächlich hörbare Atemgeräusche des Dirigenten ich glaube in der Nullten Sinfonie, mich stört das nicht sonderlich, andere haben daran Anstoß genommen. Was aber durch die sehr differenzierte Darstellung gewonnen wird ist z.B. in der Fünften ein ganz neuer, für mich bisher so noch nie hörbarer Zusammenhang.