1740 schreibt Johann Mattheson über Heinrich Biber:
ZitatIn den Kaiserlichen Erblanden, wie auch in Frankreich und in Italien, ist er, wegen seiner Composition, wo dieselbe hinkommen, nach Verdienst hochgeachtet worden [...]
Heute ist es ja auch nicht anders: wo seine Kompositionen "hinkommen" wird er "nach Verdienst hochgeachtet": es ist interessant festzustellen, dass dabei nicht die für die Zeitgenossen Bibers bekannte Werke, sondern eine musica reservata, die womöglich nur wenige Auserwählte damals das Glück hatten zu vernehmen, heute den Namen dieses bewunderswerten Komponisten wieder bekannt macht. Ein Werk sogar, über die der erste moderne Editor des Werkes (Edwin Luntz) noch eher negativ urteilte:
ZitatKönnen diese Versuche, die Musik als Spiel in Verbindung zu bringen mit der Musik als Ausdruck, auch keineswegs gelungen bezeichnet werden, so verdienen dieselben dennoch die Beachtung des Musikhistorikers, denn Trotz aller Mängel spricht aus ihnen ein gewisses Verständnis für die Grenzen der Tonkunst, während die meisten Beispiele der frühesten Programm-Musik mehr oder weniger eine gründliche Verirrung darstellen.
Heute sehen wir das natürlich schon vollkommen anders: wir haben nicht mehr die an Hanslick geschulte Abscheu gegenüber Programm-Musik, aber einen Hang zu Mystischem, ein Sehnen nach Vergangenem.
Das in München verwahrte Manuskript, BSB Mus. ms. 4123 (der Link führt zu dem digitalisierten Faksimile), verbarg für Jahrhunderte die sechzehn Stücke: fünfzehn für Violine und Basso continuo, eine für Violine allein, bis sie endlich irgendwann um 1900 von Guido Adler aufgefunden worden sind. Es kam noch irgendwann im 19. Jh. in die Hände von Emil Schafhäutl (1803-1890), einem Münchener Gelehrten, der durch die Schülerschaft Michael Haydns Kontakte zu Salzburg hatte und mehrere Manuskripte erwarb. Kurz vor seinem Tod, 1889 gelang der prächtige Band in die Bayerische Staatsbibliothek.
Einen Titel hat die Sammlung ncht: man kann immer wieder lesen, das Titelblatt wäre verlorengegangen, das stimmt aber nicht genau: es ist schon vorhanden, ist aber unbeschriftet. Die Titellosigkeit ist also vielleicht Teil der "Reserviertheit" der Sammlung. Nur die Eingeweihten kannten also das volle Programm: und es gibt vielleicht auch Momente in der Musik, in der Verwirklichung des Programms, deren Bedeutung nur sie gekannt haben und für uns womöglich für immer verschlüsselt bleiben.
Der heute übliche Titel "Rosenkranz-Sonaten" oder "Mysterien-Sonaten" spiegelt das Programm wieder; wie der Komponist seine Sonaten genannt hat, bleibt unbekannt.
Wie kommt es, dass ohne einen Titel das Programm dennoch entschlüsselt werden konnte? Die einzelnen Sonaten sind nämlich nicht nummeriert oder mit Titeln versehen, sondern mit einem kleinen, rundförmigen Kupferstich, deren jeder eine Episode aus dem Leben Jesu oder Mariä zeigen (NB: auch hier das Fehlen der Titel: statt Worte bezieht man sich auf das Visuelle). Diese Episoden entsprechen den 15 Mysterien oder Geheimnissen des Rosenkranz-Gebetes. Darauf spielt auch Biber an, wenn er in der sonst relativ kurz gehaltenen Widmung meint:
ZitatCausam si numeri scire velis enucleabo: Haec omnia Honori XV. Sacrorum Mysteriorum consecravi, quem [...] Tu ferventissimè promoveas.
Den Grund für die Zahl, wenn Du wissen willst, werde ich deutlich machen: Dies alles habe ich der Ehre der 15 Heiligen Geheimnisse geweiht, eine Ehre, die Du [...] glühend fördern mögest.
Die fünfzehn Geheimnisse teilt man in drei Fünfergruppen, folgendermaßen:
I. der freudenreiche Rosenkranz
- die Verkündigung
- die Heimsuchung (Besuch Mariens bei ihrer Base Eliabeth)
- Geburt Christi
- Darstellung im Tempel (Reinigung Mariä, die Prophezeiung von Simeon)
- Auffindung im Tempel
II. der schmerzhafte Rosenkranz
- Jesus am Ölberg
- Geißelung Christi
- Krönung Christi mit der Dornenkrone, Verspottung
- Kreuztragung
- Kreuzigung
III. der glorreiche Rosenkranz
- Auferstehung Christi
- Himmelfahrt Christi
- Sendung des Heiligen Geistes (Pfingsten)
- Himmelfahrt Mariä
- Krönung Mariä im Himmel
Die kleinen Kupferstiche gaben letztendlich einen Hinwes für die Datierung des Werkes: sie wurden nämlich einem Widmungsblatt entnommen, das erst 2008 aufgefunden worden und von 1678 datiert ist. Das Manuskript konnte also wahrscheinlich nicht früher als 1678 enstanden sein. Frühere Datierungsversuche legten das Werk in 1674 (Luntz) oder in 1676 (Chafe), es gab aber auch Forscher die neben einem bedeutend späteren Datum plädiert haben. Spätestens vor 1687 muss es aber schon existiert haben, da Maximilian Gandolph von Khuenburg, der Erzbischof von Salzburg, dem die Sammlung gewidmet ist in diesem Jahr starb.