- Offizieller Beitrag
HIP ist das derzeit gebräuchliche Akronym für die aus dem Englischen stammende Bezeichnung Historically Informed Performance, oder - eingedeutscht - Historisch informierte (Aufführungs-) Praxis. Es irrt, wer glaubt, dies seine eine Modeerscheinung, aus den 1970er Jahren stammend und sich nun manifestierend; es irrt auch, wer glaubt, die Ursprünge der HIP-Bewgung seien in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts zu suchen. Es irrt abermals, wer glaubt, nur wir heute hätten Probleme mit historischen Stimmungen und Instrumenten gehabt. Das Problem ist fast so alt, wie die Musik selbst, um die es geht: bereits im Wien Mozarts gab es eine Alte-Musik-Szene, an der Mozart rege teilnahm. Und zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde diese Thematik nochmals vertieft. Ich kommentiere nachfolgend Auszüge aus dem sehr umfangreichen Essay Wiens musikalische Kunstschätze, erschienen in der Allgemeinen musikalischen Zeitung am 28. Februar 1827:
Allein es giebt auch Compositionen aus der Vorzeit, die, um sie heut zu Tage auszuführen, bloss aus dem Grunde einer dermalen an dem Orte der Aufführung bestehenden, von der zur Zeit und am Orte der Composition bestandenen bedeutend verschiedenen Stimmung, in einen andern Ton versetzt werden müssen. Ein Beyspiel einer solchen Composition zeigt uns Paolucci in seiner 'Arte practica', von welcher er ausdrücklich erinnert, dass dieselbe, das Werk eines Meisters aus Bologna, wegen der zur Zeit ihrer Entstehung daselbst üblich gewesenen namhaft höheren Stimmung, heut zu Tage und an Orten, wo eine tiefere Stimmung eingeführt ist, nach Umsdtänden höher gehalten werden müsse.Er spricht nämlich von einer zehnstimmigen Motette des Andrea Rota, der zwischen 1579 und 1600 in Bologna blühte, welche zu unserm Gebrauche wenigstens um eine kleine Terz, von A moll nach C moll, zu erhöhen wäre.
Andrea Rota lebte von 1553 bis 1597. Ein zehnstimmiges Werk Rotas ist im MGG nicht explizit aufgeführt, jedoch neben einigen bis zu sechsstimmigen Sachen sowohl ein 9stimmiges 'Hodie Christus natus est' sowie ein 12stimmiges (dreichöriges) 'Magnificat'.
Hieraus sowohl, als aus jener oben angeführten Stelle des Paolucci, nach welcher auch die Transponierung der in den Chiavette geschriebenen Compositionen um eine Quart oder Quinte von der Stimmung der Orgel (il corista) abhängen soll, sieht man leicht ein, wie wesentlich zur Bestimmung des wahren Tones der Ausführung alter Compositionen alla capella es sey, die zur Zeit des Autors und an dem Orte, für den er schrieb, üblich gewesene Stimmung und deren Verhältniss zur heutigen, eigentlich unserer Local-Stimmung, zu berücksichtigen.
Als 'Chiavette' bezeichnet man herkömmliche Notenschlüssel, die auf einer anderen Linie als üblich liegen und somit einen anderen als den üblichen Ton fixieren. In Frankreich war beispielsweise der danach sogenannte französische Violinschlüssel bevorzugt, welcher eine Linie tiefer beginnt, wodurch folglich 'unser g1' wie ein e1 notiert ist.
Ueber die Stimmung in den früheren Jahrhunderten eine zuverlässige Notiz, oder eigentlich den Ton selbst, in Beziehung auf das Mass der Höhe, auszumitteln, möchte wohl jetzt kaum noch möglich seyn. Ich zweifle, dass sich irgendwo in einer Antiquitäten-Sammlung authentische Stimm-Pfeifen, deren man sich damals zur Uebertragung des Tones, wie gegenwärtig der Stimmgabeln, bediente, noch vorfinden möchten; die Orgeln werden vermuthlich meistens auch im Verlaufe dieser Jahrhunderte merkliche Aenderungen erlitten haben. Ein mittel aber, die Stimmung zu fixieren, und für die ganze Welt kenntlich zu bezeichnen, gab es noch nicht; diese auch jetzt noch zu wenig gekannte und angewendete Erfindung war erst in unserer Zeit Hrn. D. Chladni vorbehalten, wovon weiter unten die Rede ist.
Ernst Florens Friedrich Chladni (1756-1827), Physiker und Astronom, gilt als Begründer der modernen experimentellen Schall-Lehre (Akustik).
Bey uns in Deutschland ist man von jeher gewohnt, nur zweyerley Hauptstimmungen zu unterscheiden: den Chorthon und den Kammerton. Der erstere soll von dem letzteren, tiefern, um einen ganzen Ton abstehen. Höher als beyde soll aber ehemals auch noch ein sogenannter Cornetton existirt haben, der nur noch höchst selten auf sehr alten Orgeln gefunden wird. Die allgemeine Meinung bey uns ist,dass in früheren Jahrhunderten der Chorton, nämlich die höhere Stimmung, die am allgemeinsten übliche war; dass nach dieser auch die Instrumente eingerichtet gewesen; dass erst nach Einführung verschiedener Instrumente an den Höfen zum Privatvergnügen der Grossen, in den Kammern, jene tiefere Stimmung, welche von daher die Benennung des Kammertons erhielt, aus dem Grunde gewählt worden sey, weil man die in den Kirchen eingeführte Stimmung, den Chorton, für die Kammer zu grell fand, und sich überzeugte, dass Bogen- und Blasinstrumente bey einer etwas tiefern Stimmung einen schönern und männlichern Ton erhielten.
Interessant sind die diesem Passus nachfolgenden Aufzählungen von Messungen des grossen C an verschiedenen Orten. Der Autor des Essays erwähnt zudem, daß es allein in Wien zu seiner Zeit schon allein dreyerley Theaterstimmungen gab, wovon die tiefste jenes des Hoftheaters war. Und obwohl der Autor zu Beginn seines Aufsatzes moniert: Darum wäre es sehr zu wünschen, dass uns die Annalen der Kunst die Veränderungen [...] seit dem fünfzehnten Jahrundert [...] aufbewahrt hätten, so enttäuscht er den Leser mit einer flapsigen Bemerkung: Ich bin nicht in der Verfassung, unsere hier in Wien jetzt üblichen Stimmungen [...] zu messen. Der Essayist schreibt auch, er habe 1801 eine Flöte aus Leipzig mitgebracht, für die in Wien (wegen der anderen Stimmung) keine Verwendung gefunden werden konnte. Man kann allerdings aus dem Text rekonstruieren, daß die Wiener Stimmung (welche der drei auch immer) etwa jener entsprach, die Euler anno 1760 in Petersburg gemessen hat; wenn man dem Autor Glauben schenkt, so waren dies 125 Schwingungen für das C. Späterhin schreibt er von der eigentlichen Notwendigkeit der Herabstimmung der Wiener Orchester von 132 auf 120 Schwingungen, um ein Händeloratorium im Tone des Originals aufzuführen. Man kann also sagen, daß die Stimmung zwischen 125 und 132 Schwingungen für das große C lag. Die tiefere Stimmung läge - umgerechnet auf das a' - bei 421 Hz, die höhere bei 446 Hz, wobey ich die Bruchtheile, als unbedeutend, weggelassen habe. Das würde sich in etwa mit der Angabe decken, Mozarts Stimmgabel habe 421,6 Hz abgegeben. Für das Händeloratorium wäre nochmals einen knappen halben Ton herunterzustimmen gewesen, also auf etwa 400 Hz.
Wie liesse sich denn endlich zur Vertheidigung der hohen Stimmung, die meines Wissens vorzüglich in Paris, Wien und Petersburg in verschiedenen, mehr oder minder bedeutenden Abstufungen eingeführt ist, wohl irgend sagen? Den Geigeninstrumenten kann sie nicht zuträglich seyn; denn, wenn die Amati, Stradivari, und andere, deren Violinen stets als Muster betrachtet und gebraucht werden, den Bau derselben auf den zu ihrer Zeit angenommenen, in Italien auch jetzt noch allein üblichen tiefern Kammerton berechnet hatten, wie können ihre Instrumente jetzt, bey einer so beträcchtlich höhern Stimmung noch taugen? können wir diese anders als enrtweder durch stärkere Spannung oder durch schwächere Besaitung erzwingen? Im erstern Falle haben wir die Gefahr für das Kostbare Werk und den Nachtheil, dass die Saiten öfters springen; im andern offenbaren Verlust an intensiver Kraft des Tones, die durch das Grelle des höhern Klanges schlecht ersetzt ist.
Die Blasinstrumente werden durch die Verkürzung nur scheinbar stärker; eigentlich bloss schneidender, und verlieren wesentlich an der Fülle und Anmuth des Tones; [...] Man frage endlich alle Sänger, ob ihnen der öftere Wechsel des Stimmtones gleichgütlig ist? man frage insbesondere alle hiesigen Sänger, ob ihnen dr Vortrag der meisten ausländischen und aller älteren noch gangbaren Compositionen, z. B. eines Händel, Bach, Graun, Naumann und anderer, nicht eine mehr als gewöhnliche Anstrengung kostet? und ob sie nicht selbst die currenten italienischen Opernsachen in der etwas tiefern Stimmung der italienischen Theater mit grösserer Leichtigkeit, also wohl auch besser als nach der unsrigen, vorzutragen glaubten? [...] Wenn also, wie oben sich gezeigt, durch eine höhere Stimmung die Saiten- und Blasinstrumente gleich den Sängern nur verlieren, worin soll denn eigentlich der vermeinte Vortheil bestehen? Man sagt: es mache eine höhere Stimmung die Instrumentalmusik, sonderlich in Symphonien, lebhafter. Diess kann allerdings nicht bestritten werden, indem gerade die helltönendsten aller Instrumente, die Violinen und Trompeten, bey hoher Stimmung noch mehr durchdringen; doch hat endlich alles seine Gränzen, "quos ultra citraque nequit consistere rectum". (Horaz: Sermones I, 1, 106-07. Es gibt ein rechtes Maß in allen Dingen).
Jetzt allmählich wird der Autor zynisch: Warum schafft man in den Orchestern nicht auch noch die D-Flöten, die A- und B-Clarinetten ab, und führt statt ihrer schrillende F-Flöten und F-Clarinetten ein? Sollen wir denn im Ernste glauben, dass eine Symphonie von Haydn sich durch höhere Stimmung in Wien brillanter ausnimmt, als z. B. in Dresden, Berlin, Hannover, München, Mayland oder Venedig?