Die sogenannte historisch informierte Aufführungspraxis in Statements ihrer Protagonisten

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    Nun ist es ja nicht so, dass Christoph Spering nicht als Protagonist der sog. hist. inform. AP angesehen würde. Dieses Interview unter der Headline "Die historische Aufführungspraxis ist verkommen" habe ich allerdings mit geöffnetem Mund gelesen.


    Das Zitat passt irgendwie nicht zum Rest vom Interview und erscheint mir auch etwas "out of context". Überhaupt bleibt Spering in seinem Interview zu seinen provokanten Aussagen die Belege schuldig.
    Er sagt auch: "Wir wissen ja auch, dass etwa in der Barockzeit viel vibriert wurde. ". Wissen wir das? Woher wissen wir das? Wer weiß das?

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    Im Prinzip hat er schon Recht; in der HIP macht inzwischen jeder, was er will und wie es ihm gerade passt - die passenden Argumente werden irgendwie immer gefunden; geprüft wird das selten. Nur von solchen Freaks wie uns ... Das macht es aber eben auch abwechslungsreich und spannend. Und: niemand, dessen Recht nicht bewiesen werden kann, hat automatisch Unrecht.

    Es wird ja auch ständig Neues entdeckt und aufgedeckt; insofern kann es zum jetzigen Zeitpunkt noch gar kein „richtig“ oder „falsch“ geben; wenn die Argumentationskette stimmig ist und das musikalische Ergebnis überzeugt, dann passt's.

    In dubio pro musica.

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    Naja: zumindest in dem kurzen Interview macht Spering sich nicht die Mühe, irgendetwas zu begründen. Von daher lässt er sich auch schwer widerlegen.

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    Das Interview ist ja auch kein Fachbuch, das zur Promotion geeignet sein soll. Wer sich mit den Inhalten konkret auseinandersetzen mag, wird dies tun. Ich fasse es eher als Anregung auf, über die aktuelle Situation nachzudenken.

  • So ein Interview darf auch keine musikwissenschaftliche Angelegenheit sein, und Spering gibt halt seine eigene Meinung wider. Ich finde es auch nicht dramatisch, wenn jeder sein eigenes Süppchen kocht - das haben die Traditionalisten auch getan (nur daß die auf Quellenkunde verzichtet haben... *flirt* ). Letztendlich muß das Ergebnis einem gefallen.

    Wären die Dogmen in HIP (ja, die gibt es wohl wirklich) so wichtig, dann dürfte man verschiedene Sachen gar nicht mehr anhören. Wie: Tallis Scholars mit Frauen besetzt? Stuttgart-Sound: HIP und omi? Hä: Bach mit solistischen Chören? Bach mit gemischten Chören? Bach mit Knabensopranen? Wie: Naturtrompeten? Ohne Intonationslöcher? GV mit Fortepiano? 8| *grrr* :umfall:

    *hä*


    jd :wink:

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

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    Nun ist es ja nicht so, dass Christoph Spering nicht als Protagonist der sog. hist. inform. AP angesehen würde. Dieses Interview unter der Headline "Die historische Aufführungspraxis ist verkommen" habe ich allerdings mit geöffnetem Mund gelesen.


    Auf CD scheint es aber die erwähnten Beethoven-Sinfonien nicht zu geben? Ich finde nur die 9 ...

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    "Ich kann Scarlatti nicht anrufen!"

    Zitat

    Scarlatti spielen auch Sie selbst am Flügel – eine im Kontext der historischen Aufführungspraxis inzwischen durchaus umstrittene Frage.
    Ich habe dafür Verständnis, bin aber nur zum Teil einverstanden. Ich glaube, dass Komponisten wie Scarlatti, Beethoven oder Mozart Genies waren, die ihrer Zeit voraus waren. Wenn ich etwa an Scarlattis Sonata in h-Moll L33 denke (singt die Anfangstakte), kann ich mir kaum vorstellen, dass er ans Cembalo dachte, als er diese Noten komponierte. Das ist doch eine Arie! Was ich damit sagen will: Die Musik wird durch ein Instrument zum Ausdruck gebracht. Und wir wissen, dass Beethoven oder Clementi mit ihren Instrumenten durchaus nicht zufrieden waren. Sie versuchten im Grunde, das Instrument zu transzendieren, über das Instrument hinauszugehen. Ich glaube nichtsdestotrotz, dass es gerechtfertigt und auch sehr interessant ist, Musik auf historischen Instrumenten zu spielen. Wenn man Clementi auf dem Hammerklavier spielt, hört man genau das, was er auch hörte. Aber das Hammerklavier ist im Grunde ein Instrument im Zustand der Evolution, das zwischen dem Cembalo und dem modernen Flügel steht. Deswegen denke ich, dass ein Instrument im wahrsten Sinne des Wortes Instrument sein sollte. Meine persönliche Philosophie in diesem Zusammenhang könnte man folgendermaßen umreißen: In dem Moment, in dem ich es schaffe, das Instrument zu überwinden und das auszudrücken, was durch die Noten hindurch die Botschaft des Komponisten war, ist der Rest unerheblich. Wenn ich hingegen meine Aufmerksamkeit auf die exakte Reproduktion eines angenommenen historischen Zustandes richte und nicht mehr über die Noten hinausgehe, dann scheitere ich. Dennoch müssen der Zeitzusammenhang und die Stimme des Komponisten respektiert werden. Deshalb ist es notwendig, jeden Komponisten auf vollkommen eigene Art und Weise zu spielen. Man muss es aber aus den Möglichkeiten unserer Zeit heraus tun. Strawinsky sagte: "Music is the present!"

    Man kann sich außerdem auch die Frage stellen, inwieweit man überhaupt wissen kann, wie Musik in der Vergangenheit klang.
    Ich kann Scarlatti nicht anrufen und ihn fragen, wie ich es machen soll! (lacht) Deswegen können wir uns auch nicht sicher sein. Und ein wirkliches Problem haben wir, wenn das historische Dokument zum Dogma wird. Da transzendieren wir nicht mehr die Musik, sondern bleiben an der Oberfläche.

    Ulli, übernehmen Sie! 8-)

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    Ich benötige hier keine explizite „Aufforderung zum Tanz“ - ich schieße frei aus der Hüfte:

    Ich habe dafür Verständnis, bin aber nur zum Teil einverstanden. Ich glaube, dass Komponisten wie Scarlatti, Beethoven oder Mozart Genies waren, die ihrer Zeit voraus waren.


    Danke für das Verständnis; um gleich in medias res einzusteigen: das ist Blödsinn; jeder Lebendige ist stets präsent. Nur, weil das Spiel auf einem anderen (aus damaliger Sicht: zukünftigen) Instrument möglich ist, ist man nicht futuristisch. Es kann nur Zufall (oder eine bloße Gegebenheit) sein - kein Komponist kann vorhersehen, was sich entwickeln wird; er kann die Entwicklung anstossen, das ist richtig. „Hätte, hätte, Fahrradkette“ ist keine schlüssige Argumentationskette.

    Die obige Aussage ist deswegen reine Suggestion und damit redundant.

    Die Musik dieser Zeit war eigentlich nicht dazu gedacht, tradiert zu werden; dafür wurde ja ständig neue Musik komponiert. Die Komponisten versuchten, zeit ihres Lebens mit ihren Schöpfungen Ruhm und Anerkennung - in schwerwiegenden Fällen auch das tägliche Brot - zu verdienen; mit deren Ableben war das Thema eigentlich uninteressant geworden ...

    Und wir wissen, dass Beethoven oder Clementi mit ihren Instrumenten durchaus nicht zufrieden waren.


    Das ist richtig; das sind wir aber heute auch nicht. Wobei Clementi gegenüber Beethoven als Clavierbauer deutlich im Vorteil war. Die Frage ist, was als „Verbesserung“ zu verstehen ist und wahrgenommen wird.

    *int*

    Wenn man Clementi auf dem Hammerklavier spielt, hört man genau das, was er auch hörte.


    Genau. Und darum geht es zumindest mir: ich möchte das hören, was der Komponist hörte - oder zumindest möchte ich dem so nah wie derzeit möglich kommen. Wird auf einem modernen Flügel gespielt, mag dem ein oder anderen das gefallen; das ist ja auch kein Vergehen, zumal: wenn man es nicht anders kennt - hier ist die HIP-Fraktion nicht so rigoros die das deutsche Strafrecht, das vor Nichtwissen keinen Halt macht. Das ist alles toll, künstlerisch wertvoll, faszinierend, was auch immer .... aber nicht das komponierte Werk. Niemand heute würde ja auch eine Nachahmergruppe von ABBA oder den Beatles genauso wertschätzen, oder? Da hört man doch ganz klar lieber das Original. Okay, etwas weit ausgeholt, Äpfel mit Birnen verglichen, aber immerhin noch im Bereich Obst geblieben. Aber zum Verständnis könnte es ggfs. beitragen ... Ich betrachte die Musik als zeitgebunden ... mir ist es prinzipiell egal, was man daraus machen kann, wie das auf modernen Instrumenten klingt (dem widersprechend bin ich auch ein großer Fan von ausgewiesenen Bearbeitungen, was allseits bekannt sein dürfte ...). Dafür gibt es SWR3, HitRadio und dergleichen ...

    Aber das Hammerklavier ist im Grunde ein Instrument im Zustand der Evolution, das zwischen dem Cembalo und dem modernen Flügel steht.


    Halbrichtig. Das Cembalo war bereits zu Bachs Zeiten finalisiert und hat sich seitdem nicht mehr verändert. Das Hammerklavier kam erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts auf und wurde ständig verändert (ich meide bewusst den Begriff „verbessert“). Auch heute noch wird am Klang der modernen Flügel geschraubt ... ich empfehle den Film PianoMania. Musik, die in einem gewissen „Stadium“ des Hammerflügelbaus entstanden ist, ist eben grundsätzlich explizit dafür komponiert worden (das lässt sich zum Teil, leider nicht immer, am Notentext aufzeigen); nicht für spätere und eigentlich auch nicht für frühere Versionen; aus verkaufstaktischen Gründen wurde letzteres und ersteres generell natürlich nicht ausgeschlossen.

    Deswegen denke ich, dass ein Instrument im wahrsten Sinne des Wortes Instrument sein sollte.


    Gefällt mit per se.

    Und ein wirkliches Problem haben wir, wenn das historische Dokument zum Dogma wird. Da transzendieren wir nicht mehr die Musik, sondern bleiben an der Oberfläche.


    *hmmm**hä*?(

  • Und ein wirkliches Problem haben wir, wenn das historische Dokument zum Dogma wird. Da transzendieren wir nicht mehr die Musik, sondern bleiben an der Oberfläche.


    Das ist der eigentliche Knackpunkt: Leute wie Harnoncourt oder Leonhardt haben genau das nie getan. Sie haben immer alte instrumente auch nach ihren klanglichen und spielerischen Möglichkeiten erschlossen und dann damit Musik interpretiert. Immer wieder kommt das Gegenargument, man beschränke sich in seinen Möglichkeiten, wenn man das moderne Instrumentarium außen vor läßt. Dabei muß man doch im Kontext sehen, daß damals niemand wußte, wie es ursprünglich geklungen hatte, eben weil die alten Instrumente nicht zu Einsatz kamen. Und als man sich das erschloß, stellte sich heraus, daß es toll klang.

    Und heutzutage taugt das als Argument auch nicht, denn wieso soll das "In dem Moment, in dem ich es schaffe, das Instrument zu überwinden und das auszudrücken, was durch die Noten hindurch die Botschaft des Komponisten war" nicht auch bei opi klappen? Leporatti zieht selber den Schluß, der Rest sei unerheblich - auch wenn er es in diesem Sinne gar nicht gemeint hatte... :D :D :D

    Es ist immer wieder diesselbe Leier: weil die Tröte/Fidel alt ist, ist es nicht so gut entwickelt. Nur darum ging es doch nie. Es geht um "klingende Erkenntnis" - um die Offenbarung, daß opi als Aufführungstradition heutzutage eine wichtige Alternative darstellt.


    jd :wink:

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

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    Immer wieder kommt das Gegenargument, man beschränke sich in seinen Möglichkeiten


    Das ist kein Gegenargument, sondern - natürlich, ohne Hehl - die Wahrheit. Aber leider am Thema vorbei. Es geht eben gar nicht um die heutigen Möglichkeiten, sondern um die damalige Musik ...

    Der japanische Konzertmeister des Concerto Köln schrieb jüngst zur neuen Einspielung der Vivaldischen „vier Bahnhöfe“:

    Zitat von Shunske Sato

    Haargenau folgen, was auf dem Blatt steht: Das ist eine Vorstellung, die den Musikern bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts komplett fremd war. Fantasie, Persönlichkeit und eine eigene Meinung über ein musikalisches Werk wurden erwartet.

  • Zitat von »Shunske Sato« Haargenau folgen, was auf dem Blatt steht: Das ist eine Vorstellung, die den Musikern bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts komplett fremd war. Fantasie, Persönlichkeit und eine eigene Meinung über ein musikalisches Werk wurden erwartet.


    Ich muss gestehen, dass ich erst ziemlich spät in diese Diskussion einsteige. Von daher ist mein Standpunkt vielleicht schon dargelegt worden. Keine Ahnung. sorry.

    Das, was Shunske Sato hier sagt würde ich sofort, geradezu hemmungslos, unterschreiben. Im Belcanto war es üblich, dass man Kadenzen eben nicht notierte, sondern es den Sängern überließ, die notierten Arien nach eigenem Gusto, Geschmack und v.a. Können fortzuspinnen. Das hatte schon etwas ziemlich Demokratisches.

    Zudem bin ich fest davon überzeugt, dass jede Generation sich ihren eigenen interpretatorischen Weg zu diesen Kunstwerken schaffen muss. Sobald ein Komponist sein Werk veröffentlicht hat, ist es frei. Die Interpreten sind nun aufgefordert es in ihrer Weise und aus der Sicht ihrer Zeit darzubieten. Im Theater, Stichwort Regietheater, ist das eine Selbstverständlichkeit. Das gilt doch aber für jedes notierte Werk, das einer Veröffentlichung bedarf. Oder?

    Das Problem bei der Interpretation ist nur: Wie weit darf ich gehen? Und hier eine Messlatte zu finden ist schwierig. Da kommt ganz viel Eigenverantwortung, Moral vielleicht, Wissen, Selbstbeschränkung, vielleicht auch Demut zum Tragen.

    Wenn das richtig ist, ;) finde ich in dem Zusammenhang viel interessanter, warum heutzutage solche Frage überhaupt auftaucht. Aber möglicherweise liege ich auch total falsch.

    Liebe Grüße
    Thies :wink:

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    Es ist schon ein Unterschied, ob man Cadenzen oder Auszierungen frei improvisiert und wenn, nach welchem Zeitgeschmack?

    Zitat

    Sobald ein Komponist sein Werk veröffentlicht hat, ist es frei.


    Da bin ich etwas anderer Meinung. „Frei“ ist es erst, wenn der Komponist 70 Jahre tot ist und selbst dann entscheidet noch die Moral, wie weit diese Freiheit gehen darf. Hier geht es ja explizit um die historisch „korrekte“ Aufführung und nicht um Bearbeitungen (die ich für sich betrachtet auch wieder schätze).

    Hier geht es auch nicht darum, daß Inszenierungen zur Zeit der Uraufführung mit tagesaktueller Mode versehen waren und dies heute 1zu1 umgesetzt wird, was ich logisch und auch gut finde. Eine historisch „korrekte“ Darbietung schaut jedoch so aus, wie es der Komponist damals selbst erlebt hat. Darum geht es. Auch bei den Instrumenten, Bühnenbildern, der Sprache und Gesangskultur.

    • Offizieller Beitrag

    Tut zwar an dieser Stelle eigentlich nichts zur Sache, aber es ist so wunderbar:

    Zitat

    Zuerst muss ich bei einem Stück darüber nachdenken, was der Komponist damit sagen wollte, und an zweiter Stelle dann darüber, was ich sagen möchte. Ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass es viel weniger interessant ist, wenn man umgekehrt arbeitet.


    Ich weiß gerade nicht, ob wir einen passenden Allgemeinthread zum Thema „Interpretation" haben?

    Und (weiter unten):

    Zitat

    ‚Reste’


    *lol**yepp*

  • Guten Tag

    sehr direkt zur Thematk formuliert:

    Musikalische Paradiesvogel-Scheiße

    Wider das „Spezialistentum“ der Streicher in der Alten Musik, eine Polemik mit erstaunten Zwischenfragen von Reinhard Goebel.


    Gruß :wink:

    aus der Kurpfalz

    Bernhard

    «Es ist wurscht, ob das jemand versteht, aber es muss gesagt werden» (Samuel Beckett)

  • Zitat

    Die schärfsten Kritiker der Elche
    waren früher selber welche.
    [F. W. Bernstein]

    s.a. Wikipedia

    Jan Reichow (jd hat ihn kürzlich erwähnt), ehemaliges Mitglied eines Orchesters für Alte Musik (Geiger) und Leiter der Abteilung Volksmusk des WDR (die er von der "volkstümlichen" Musik befreite und zu einem Platz für "Weltmusik" machte - seine Radio-Essays über europäische und außereuropäische Musik, mir fällt kein richtiger Begriff dafür ein, waren ein Ereignis) betreibt nach seiner Pensionierung ein Blog, in dem er u.a. auch über das hippe-Thema sinniert und manchmal auf Texte von Goebel hinweist - in Köln schon fast mutig - ich habe nicht den Eindruck, dass Goebel dort noch wohlgelitten ist.

    Also, langer Rede kurzer Sinn: ich empfehle, das Blog hin und wieder zu lesen. (Und ja, einige Sachen sind m.E. der Selbstdarstellung geschuldet - aber, wer sind wir in diesen Klassik- oder anderen Foren, die das kritisieren könnten... Jan Reichow

    lg vom eifelplatz, Chris

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    Zitat

    Mozart, ständig auf Suche nach Verbesserungen instrumentaler Technik...(hätte) einen Konzertflügel von heute einem Walter-Hammerflügel von damals vorgezogen.


    8-):D*lol*