HIP und die Musik des 20. Jahrhunderts

  • Dank rühriger Dirigenten, wie Jos van Immerseel (Ravel, Poulenc, Orff) und Francois-Xavier Roth (Strawinski), ist HIP ja nun auch im 20. Jahrhundert angekommen, wobei sich sofort die Frage ergibt, ob das überhaupt noch Sinn macht.
    Da diese Fragestellung nun aber sehr allgemein ist, möchte ich sie etwas präzisieren:


    1. In wie weit unterscheidet sich Instrumentarium Anfang 20. Jhdts von dem Mitte und Ende selbigens?


    2. Wie schaut es mit der Spielweise aus? Hat man 1913 anders gespielt als 1923, 33, 43, 53, 63...


    3. Wie sind dirigierende Komponisten einzuschätzen? Besonders, wenn sie ein Werk im Laufe ihres Lebens immer wieder mal zur Aufführung gebracht haben? Ich denk da an Strawinski, der seinen Sacre im Laufe seines Lebens des öfteren eingespielt hat, genauso wie seine Oper "The Rakes Progress".


    4. Wie schaut es mit Uraufführungsmitschnitten aus? Wie mit Einspielung die mit gleichem Personal uraufführungsnah erfolgten (Schostakowitsch,
    Schtschedrin)?


    5. Wie mit Widmungsträger (Schostakowitsch - Beethoven-, bzw. Borodin-Quartett)?


    6. Wie sind vom Komponisten abgesegnete Aufnahmen einzuschätzen (Orff)? Wie solche, die unter der Aufsicht des Komponisten entstanden sind (Chatschaturian)?


    7. Ist die sowjetische Aufnahme eines Werkes eines sowjetischen Komponisten mit einem sowjetischen Dirigenten mehr HIP, als eine Westaufnahme des selben Werkes mit westlichem Personal aus der postsowjetischen Ära (Schostakowitsch-Sinfonien)?


    Siegfried
    :wink:

  • Das müsste man glaube ich einzeln sich anschauen, was diese Dirigenten darunter verstehen. Es könnte ja auch bedeuten, dass sie bei der Vorbereitung auf die Quellen zurückgreifen und den üblichen Aufführungsausgaben kritisch gegenüberstehen. Also eher HIP wie historisch informiert als "opi" also auf zeitgenössischen Instrumenten...


    Das ist aber nur meine Einschätzung. Ich kenne diese Aufnahmen nicht.


    LG
    Tamás
    *castor*

    Alle Wege führen zum Bach,
    .................................... wo der kleine Biber lebt!

    • Offizieller Beitrag

    Grundsätzlich, ohne daß dies jetzt den Kern Deiner Frage(n) berührt, lieber Siegfried:


    Wenn Bach auf einem Steinway gespielt werden darf, dann darf auch Rachmaninov auf einem Cembalo gespielt werden :D


    Ohne diese Übertreibung heißt das für mich, daß Alte-Musik-Ensembles mit dem Ihnen zur Verfügung stehenden Instrumentarium eben auch durchaus modernere Werke spielen (dürfen/können); ich gehe sowieso ungeprüft davon aus, daß man 1901 z.B. nicht zwingend auf Instrumenten des Jahres 1901 gespielt hat - mitunter wohl schon, aber im Regelfall hatten die damals verwendeten Instrumente damals auch schon ein paar Herbste durchlebt, nehmen wir mal an: im Schnitt 25 bis 30 Jahre (wie das wohl heute auch üblich ist)!? Demnach müsste in der Instrumentenmischung der überwiegende Teil der Instrumente aus dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts stammen, also um 1870/80, teilweise sicher auch noch wesentlich älter. Ohne dies im Moment näher zu spezifizieren: die klangen schon (noch) anders, wie man beispielsweise an Herreweghes Mahler hören kann.


    Dirigierende Komponisten sind m. E. nicht das Maß... es sei denn, man möchte mit der speziellen Aufnahme die Uraufführung exakt nachbauen. Manche Dirigenten waren eher mittelmäßige Komponisten, manche Komponisten schlechte Dirigenten.



    :wink:

  • Lassen wir doch einmal Jos van Immerseel selbst hinsichtlich der Darstellung seiner Beweggründe zur Aufführung eines Repertoires "bis etwa 1940" zu Wort kommen. Das nachfolgende Interview, Michael Arntz (CONCERTO), unter der Headline "Die Musik verteidigen" fand ich jedenfalls im Zusammenhang mit den von Dir, lieber Siegfried, aufgeworfenen Fragen teilweise recht erhellend (als Pdf).


    concerto-magazin.de/index.php/interviews.html?file=tl_files/


    (bei mir handelt es sich um den ersten Eintrag in der Google-Ergebnisübersicht)

    • Offizieller Beitrag

    Das (mir bereits in Auszügen bekannt gewesene) Immerview enthält z. T. wirklich großartige Erkenntnisse, die gerade etwas themenfern sind; wie z.B. die Erleuchtung über die Täuschung der (nicht vorhandenen oder zu niederen) Lautstärke eines Kammerensembles - ich beziehe mich hier speziell auf Schoonderwoerds oftmals diesbezüglich kritisierte Clavierkonzert-Editionen Beethoven/Mozart.


    Die weiten Einblicke in die Forschungsarbeiten, die der anschießende Konsument so nicht mitbekommt (sondern lieber ablehnt), sind auch überaus interessant. Ich kenne z.B. die Aufnahme mit der Symphonie fantastique, die ich sehr schätze; mir war auch klar, daß hier Érard-Flügel anstelle der Glocken verwendet werden, aber nicht warum (vielleicht ein kleiner Nachteil des bookletlosen e-Erwerbs...). Das ist hiermit geklärt.


    Seine Einstellung gegenüber NH freut mich ganz besonders. :D


    Es geht ja bei HIP iVm opi letztlich bloß darum, das Werk möglichst authentisch wiederzugeben. Ob dies nun generell funktioniert oder nicht, steht auf einem anderen Blatt - vermutlich irgendwo zwischen Vorder- und Rückseite desselben - was zählt und offenbar fasziniert, ist die Idee, die sich in das heute populäre Retrodenken gut einpasst. Möbel und Autos werden liebevoll restauriert, um möglichst wieder im Originalzustand zu glänzen und sie werden z.T. neu aufgelegt (Nachbauten). Daran stört sich komischer Weise niemand wirklich... Authentisch wiederzugeben vor dem Hintergrund, daß nach heutiger Ansicht jedes Werk ein Kunstwerk ist, das einem ständigen Wandel unterliegt und in dem jedesmal aufs Neue Dinge entdeckt werden können, unter anderem auch solche, die schöpferseits niemals hineingelegt wurden, aber n.h.M. latent vorhanden waren...


    *frog*

    • Offizieller Beitrag

    Um Siegfried gerecht zu werden und die Kurve ins 20. Jahrhundert wieder zu kriegen: ich kenne - und schätze - z.B. die Aufnahme von Rachmaninovs 2. Klavierkonzert, gespielt von ihm selbst - das ist für meinen Geschmack interpretatorisch kaum zu überbieten; von der Klangqualität hingegen (vorsichtig ausgedrückt) durchaus. Da würde ich mir doch eine klanglich aktuelle Aufnahme von Immerseel wünschen...


    :love:

  • 1. In wie weit unterscheidet sich Instrumentarium Anfang 20. Jhdts von dem Mitte und Ende selbigens?




    2. Wie schaut es mit der Spielweise aus? Hat man 1913 anders gespielt als 1923, 33, 43, 53, 63...


    Ich schätze jetzt einmal, dass man bis Mitte der 20er noch Instrumente aus der Zeit nehmen kann und die auch vom Hörer als solche wahrgenommen werden. Danach sind die Unterschiede marginal.
    Mit der Spielweise verhält es sich anders, da dürfte in der ersten Hälfte des 20. Jhdts wesentlich vibratoärmer gespielt worden sein, als in der zweiten. Ob es ein völlig vibratoloses Spiel war, sei dahingestellt, nach den Tonaufzeichnungen aus dieser Zeit eher nicht.
    Und natürlich gehört da auch noch die Orchesteraufstellung und Orchestergröße dazu, wobei mir jetzt aufgefallen ist, dass bei den aktuellen HIP-Aufnahmen dieses Repertoires gut 30 Streichern ein ebenso großer, wenn nicht größerer Bläserapparat plus Schlagwerk gegenüber steht. D. h. es spielt da kein "Mozart"- Orchester mehr, erst Recht kein Kammerorchester sondern ein kleineres, aber doch ausgewachsenes Sinfonieorchester mit einer stärkeren Bläsergewichtung. Die Resultate sind übrigens vorzüglich, wobei sich aber auch da die Frage stellt, ob man nicht den gleichen Effekt bei einem herkömmlichen Sinfonieorchester mit einer Verstärkung des Bläserapparates erreichen könnte. Ich denke da jetzt an das meiner Meinung nach durchaus geniale Mahler-Arrangement von Beethovens 9.

    3. Wie sind dirigierende Komponisten einzuschätzen? Besonders, wenn sie ein Werk im Laufe ihres Lebens immer wieder mal zur Aufführung gebracht haben? Ich denk da an Strawinski, der seinen Sacre im Laufe seines Lebens des öfteren eingespielt hat, genauso wie seine Oper "The Rakes Progress".


    Ravel hat einen der besten Boleros überhaupt eingespielt, das Dirigat von Strawinski ist bei weitem besser, als sein Ruf und der Sacre war eine permanente Baustelle, so dass jede Einspielung dieses Werkes durch Strawinski selbst als HIP anzusehen ist. Aber Achtung! es handelt sich dabei immer um spätere Fassungen. Die Urfassung, die, die diesen fürchterlichen Skandal ausgelöst hat, hat Francois-Xavier Roth mit seine Les Siecles eingespielt. Und mit Verlaub, sie unterscheidet sich doch deutlich von den späteren!




    Gott sei Dank ist das Komponieren von Musik kein abgeschlossener Prozess, der mit dem Komponisten endet, der uns als letzter in unserer privaten Reihenfolge gerade noch gefällt, sondern findet auch im hier und heute noch statt. Und Gott sei Dank gibt es die HIP, die mit schlechten Gewohnheiten aufgeräumt hat und die Musik wieder so zum erklingen bringt, wie sie zur ihrer Entstehhungszeit geklungen hat.
    Und so wie ich diese HIP-Kriterien auf die Musik von 1715 anwenden kann oder auf die vo 1815, kann man sie natürlich auch auf die Musik von 1915 und 2015 anwenden. Nur braucht es das bei letzterer nicht, da man selbige ohnehin nur im Originalklang hören kann. Und das beschränkt sich jetzt nicht nur auf das hier und jetzt, sondern umfasst den gesamten Zeitraum, seitdem es anständige Tonaufnahmen gibt.
    D.h. Uraufführungsmitschnitte und dergleichen sind m. E. auf jeden Fall HIP.


    Genauso, wie auch Aufnahmen die unter der Aufsicht des Komponisten entstanden sind, wie z. B.folgende Gayaneh-Aufnahme aus dem Jahr 1978, die als kompositorisches und interpretatorisches Vermächtnis von Chatschaturian persönlich gilt.



    Bei Orff verhält es sich nun etwas anders, war doch der derart in seine Carmina Burana verliebt, dass er die unterschiedlichsten Interpretationsansätze abgesegnet hat, Hauptsache die Carmina Burana waren es. *hide*


    Fehlen noch die Widmungsträger: Ich persönlich sehe jetzt die Einspielung er Schostakowitsch-Quartette durch das Beethoven- bzw. Borodin-Quartett durchaus als HIP an. Diesen beiden Quartett-Formationen wurden die meisten, wenn nicht alle Quartette vom Komponisten gewidmet sie haben diese auch uraufgeführt.


    Kleines Fazit: Als Anhänger, Befürworter und Freund der HIP schätze ich mich glücklich, dass selbige den Weg ins 20. Jhdt. gefunden hat und noch viel glücklicher, dass es in diesem Jahrhundert schon genügend Aufnahmen gibt, die des HIP-Ansatzes nicht mehr bedürfen, weil ohnehin im Originalklang eingespielt sind.

    • Offizieller Beitrag

    wobei mir jetzt aufgefallen ist, dass bei den aktuellen HIP-Aufnahmen dieses Repertoires gut 30 Streichern ein ebenso großer, wenn nicht größerer Bläserapparat plus Schlagwerk gegenüber steht. D. h. es spielt da kein "Mozart"- Orchester mehr, erst Recht kein Kammerorchester sondern ein kleineres, aber doch ausgewachsenes Sinfonieorchester mit einer stärkeren Bläsergewichtung. Die Resultate sind übrigens vorzüglich, wobei sich aber auch da die Frage stellt, ob man nicht den gleichen Effekt bei einem herkömmlichen Sinfonieorchester mit einer Verstärkung des Bläserapparates erreichen könnte.


    Nein (wobei die Herangehensweise durchaus auch HIP ist, aber die Bläserverdoppelung nicht eben zum Alltag gehörte). Erstens: Holzbläser unisono (also parallel) zu spielen, ist enorm schwer von der Intonation her, bei dem gesamten Bläserapparat expotenziert sich das entsprechend. Außerdem ist das wie bei Kochrezepten: man kann nicht einfach die Mengenangaben verdoppeln, um die doppelte Menge zu erhalten, die dann gleich schmeckt.


    :!:


    Zitat

    D.h. Uraufführungsmitschnitte und dergleichen sind m. E. auf jeden Fall HIP.


    HIP kann nur etwas sein, daß zu einem späteren Zeitpunkt als das Original mit Rückblick interpretiert wird - das sagt die Abkürzung. Auch, wenn das meinerseits Klugscheißerei ist und ich weiß, was Du meinst: die haben damals nicht historisch interpretiert, sondern brandaktuell - aus heutiger Sicht- und Hörweise ist das erst historisch. „opi“ wäre da der treffendere Ausdruck, der nämlich besagt, daß auf Instrumenten der jerweiligen Zeit gespielt wird/wurde, wie Du richtig feststellst:


    Zitat

    dass es in diesem Jahrhundert schon genügend Aufnahmen gibt, die des HIP-Ansatzes nicht mehr bedürfen, weil ohnehin im Originalklang eingespielt sind.


    Und heißt das jetzt, daß im Falle des Vorhandenseins derlei Aufnahmen keine Neuaufnahmen mehr erforderlich sind? Die Pop-Bands nehmen ihre Songs ja in der Regel auch nur einmal auf und gut is...

  • Nein. Es sei denn, man ist Teleton ... :)


    Der war gut! *lol*


    Lassen wir jetzt einmal das sowjetische weg und betrachten die Aufnahme hinsichtlich ihrer zeitlichen Nähe zur UA und berücksichtigt man dabei auch noch, dass eventuell die gleichen Leute am Werke waren, wie bei der UA und der Komponist auch irgendwo noch herumsteht, dann kann man schon vom Originalklang reden, wobei das jetzt selbstverständlich nicht nur auf Schostakowitsch oder Prokofiew zu beziehen ist, sondern auch auf Bernstein und Britten und noch ein paar andere mehr.
    Außerdem fällt mir gerade auf, dass bei dieser Fragestellung auch noch ein bißchen die nationale Komponente mitschwingt. Und die nationale Komponente ist nicht zu unterschätzen und wenn es jetzt auch OT ist: wie gut können die Italiener Wagner spielen? Du als Wagnerianer müsstest es wissen. *ägy*


    Da sollte man doch eigentlich mal einen eigenen Thread aufmachen, nicht bloß auf Wagner bezogen sondern auf andere auch, gibt es doch da mit Sicherheit die ein oder andere Interpretation, die man zumindest als originell bezeichnen kann.


    Siegfried

  • HIP kann nur etwas sein, daß zu einem späteren Zeitpunkt als das Original mit Rückblick interpretiert wird - das sagt die Abkürzung. Auch, wenn das meinerseits Klugscheißerei ist und ich weiß, was Du meinst: die haben damals nicht historisch interpretiert, sondern brandaktuell - aus heutiger Sicht- und Hörweise ist das erst historisch. „opi“ wäre da der treffendere Ausdruck, der nämlich besagt, daß auf Instrumenten der jerweiligen Zeit gespielt wird/wurde,


    Du hast Recht, ich habe HIP mit dem Originalklang gleichgesetzt und der ist ja gegeben, der ist ja da.

    Und heißt das jetzt, daß im Falle des Vorhandenseins derlei Aufnahmen keine Neuaufnahmen mehr erforderlich sind?


    Nein, es ist nur der Versuch hinfällig, den Originalklang wieder herzustellen, da selbiger ja mit dem heutigen identisch ist.

    Die Pop-Bands nehmen ihre Songs ja in der Regel auch nur einmal auf und gut is...


    Je weiter man im 20. Jhdt. fortschreitet, desto häufiger tritt dieses Phänomen auch in der E-Musik auf. Z.B. Guldas Cellokonzert und sein Konzert für Ursula, zwei durchaus unterhaltsame, leicht eingängliche, witzige Stücke, von denen es mehr als 20 Jahre lang nur eine einzige Aufnahme gegeben hat. Seit ein paar Jahren nun gibt es wenigstens fürs erste eine Alternative. Oder künstlerisch um Welten anspruchsvoller: die 17 Weinberg-Quartette, von denen glücklicher Weise das Quatuor Danel eine Top Einspielung hingelegt hat und von einem das Pacifica Quartet. Oder ein ähnlicher Glücksfall die GA der 27 Mijaskowski-Sinfonien unter Swetlanow, von denen auch nur drei oder vier in Alternativeinspielungen vorliegen.
    Das sind jetzt Glücksfälle, von denen man lange zehren kann, dann gibt es aber auch die nicht so glücklichen Fälle, wo man beim ersten Hören schon merkt, dass in der Musik eigentlich viel mehr drin ist, als dass der Dirigent herausholt und die nächsten 25 Jahre keine altenative Einspielung in Sicht ist, wobei diese Problematik nicht nur das 20. sondern auch die vorhergehenden Jahrhunderte betrifft. :(


    Siegfried

  • Es geht ja bei HIP iVm opi letztlich bloß darum, das Werk möglichst authentisch wiederzugeben. Ob dies nun generell funktioniert oder nicht, steht auf einem anderen Blatt - vermutlich irgendwo zwischen Vorder- und Rückseite desselben - was zählt und offenbar fasziniert, ist die Idee, die sich in das heute populäre Retrodenken gut einpasst. Möbel und Autos werden liebevoll restauriert, um möglichst wieder im Originalzustand zu glänzen und sie werden z.T. neu aufgelegt (Nachbauten). Daran stört sich komischer Weise niemand wirklich... Authentisch wiederzugeben vor dem Hintergrund, daß nach heutiger Ansicht jedes Werk ein Kunstwerk ist, das einem ständigen Wandel unterliegt und in dem jedesmal aufs Neue Dinge entdeckt werden können, unter anderem auch solche, die schöpferseits niemals hineingelegt wurden, aber n.h.M. latent vorhanden waren...

    Tatsächlich gibt es einige Aspekte, die irritierend sein können: daß die Carmina Burana opi gespielt werden kann, darauf muß man erst mal kommen... *flirt*


    Ich mußte mich erstmal an den Gedanken gewöhnen, ob es nötig ist, so ein Werk anders zu betrachten. Durch die Hörproben kann ich wenigstens nachvollziehen, weshalb van Immerseel seine bisherigen Bemühungen auf das 20. Jahrhundert erweitert hat.


    Bei Bruckner hatte ich z.B. überhaupt keine Bedenken, opi in Betracht zu ziehen: allein die Tatsache, daß die Streicher damals noch keine Stahlsaiten verwendeten, ist schon ein ganz wichtiges klangliches Kriterium. Das Fortepiano bei Klaviermusik vom Anfang des 19. Jahrhunderts zähle ich auch dazu.


    Doch gebe ich zu, daß mit dem 20. Jahrhundert eine Epoche bestellt wird, die durchaus ihre Möglichkeiten hat, noch gehört zu werden. Zwar ist eine Schellackaufnahme (zumal eine akustische) kaum authentisch, weil sie das eigentliche Klangerlebnis nur partiell wiedergeben kann; aber andererseits ist es bei damals zeitgenössischen Werken eben auch eine Quelle. Sicherlich wird bald Andreas Staier sämtliche Chopin-Werke auf dem Rückers-Cembalo einspielen, aber man sollte doch eine Grenze an der richtigen Stelle ziehen... :D


    Ich plädiere dafür, trotz allem Enthusiasmus die Sache sehr genau zu differenzieren. Vieles geht, aber eben nicht alles... *hä*



    jd :wink:


  • Tatsächlich gibt es einige Aspekte, die irritierend sein können: daß die Carmina Burana opi gespielt werden kann, darauf muß man erst mal kommen... *flirt*


    Am Klang der Instrumente per se liegt dieses etwas andere Hörerlebnis nicht, dafür sind die Unterschiede zu den aktuellen zu gering. Es liegt an der Besetzung: einem 28 köpfigen Streicherapparat einschließlich der 4 Kontrabässe (6 - 6 - 6 - 4) stehen 12 Holz- und 11 Blechbläser gegenüber plus 2 Klaviere, Celesta, Pauken und 5 köpfiges Schlagwerk, was zu einer ganz anderen Gewichtung der einzelnen Instrumentalgruppen und einem ganz anderen Klang führt. In wie weit das der Uraufführungssituation oder überhaupt einer damaligen Aufführungssituation entspricht, darüber schweigt sich Immerseel im Booklet aus. Aber das ist auf Grund des durchaus hörenswerten Ergebnisses auch gar nicht so wichtig.


    Siegfried

  • Lassen wir doch einmal Jos van Immerseel selbst hinsichtlich der Darstellung seiner Beweggründe zur Aufführung eines Repertoires "bis etwa 1940" zu Wort kommen. Das nachfolgende Interview, Michael Arntz (CONCERTO), unter der Headline "Die Musik verteidigen" fand ich jedenfalls im Zusammenhang mit den von Dir, lieber Siegfried, aufgeworfenen Fragen teilweise recht erhellend (als Pdf).


    Ein interessantes Interview, nur sagt Herr Immerseel nicht, in wie fern sich ein Instrument Jahrgang 30 von einem des Jahrgangs 50 oder 60 unterscheidet, zumal unter Berücksichtigung der Lebensdauer eines Instruments und des historischen Hintergrundes allgemein davon auszugehen ist, dass in den 50ern und 60ern noch die meisten Instrumente Vorkriegsware waren.
    Außerdem ist die Wahl des richtigen Instrumentariums nur e i n Faktor und bei diesem Repertoire eh nicht mehr so von Belang. Viel wichtiger ist die Spieltechnik, die Orchesteraufstellung, die Orchestergröße und das Verhältnis der einzelnen Instrumentalgruppen zueinander. Und genau da liegt Immerseels großer Verdienst, in dem er durch die konsequente Anwendung seiner Erkenntnisse solchen im Mainstream angekommenen Stücken des 20. Jhdts. wieder ihre Expressivität, ihre Modernität zurückgibt.


    Gruß
    Siegfried

    • Offizieller Beitrag


    Der war gut! *lol*

    :) Nicht falsch verstehen, ich mag seine Vorliebe für Szell, Solti und die alten Russen; aber es ist eben alles eine Frage des Maßes ...


    Lassen wir jetzt einmal das sowjetische weg und betrachten die Aufnahme hinsichtlich ihrer zeitlichen Nähe zur UA und berücksichtigt man dabei auch noch, dass eventuell die gleichen Leute am Werke waren, wie bei der UA und der Komponist auch irgendwo noch herumsteht, dann kann man schon vom Originalklang reden, wobei das jetzt selbstverständlich nicht nur auf Schostakowitsch oder Prokofiew zu beziehen ist, sondern auch auf Bernstein und Britten und noch ein paar andere mehr.

    Ich glaube, solcherlei Überlegungen führen nirgendwohin. Für mich führt ein Werk, hat es seinen Schöpfer verlassen, ein Eigenleben; dass jener nicht mehr beeinflussen kann. In allen Künsten übrigens. Dass gerade bei der alten und älteren Musik die Originalinstrumente und die Aufführungspraxis nicht außer Acht gelassen dürfen, leuchtet mir inzwischen ein; dafür sind die Ergebisse einfach zu überwältigend. Aber die zeitliche oder räumliche Nähe des Interpreten zum Komponisten interessiert mich marginal.

    Außerdem fällt mir gerade auf, dass bei dieser Fragestellung auch noch ein bißchen die nationale Komponente mitschwingt. Und die nationale Komponente ist nicht zu unterschätzen und wenn es jetzt auch OT ist: wie gut können die Italiener Wagner spielen?

    Ich hatte dazu am 1. Juli 2014 bei C einen Thread "Interpretieren nationale Dirigenten und Orchester ihre Landsleute "besser"? installiert.


    Du als Wagnerianer müsstest es wissen. *ägy*

    Nein, lieber Siegfried, ich bin kein Wagnerianer! Dafür liebe ich alle Spielarten klassischer Musik viel zu sehr. Wagner gehört zu meinen liebsten Komponisten; aber neben und über ihm stehen all die anderen, die ich in meinem Profil genannt habe.

  • Aber die zeitliche oder räumliche Nähe des Interpreten zum Komponisten interessiert mich marginal.


    Hätte es in früheren Zeiten schon Tonaufnahmen in heutiger Qualität gegeben, hätte sich ein Großteil der HIP-Fragestellungen erübrigt. Und bei der neueren Musik ist ja das nun der Fall, weswegen Immerseel seine Exkursionen ins 20. Jahrhundert laut Eigenaussage nicht über die 40er Jahre des selbigen hinausgehen lassen möchte.


    Gruß
    Siegfried