ZitatIm Nachlassverzeichnis von Johann Sebastian Bach aus dem Jahre 1754 wird davon gesprochen, dass der alte Kantor fünf Passionen, davon eine für zwei Chöre, komponiert hatte. Doch bis heute sind nur drei Passionen bekannt, die Johannes-Passion, die Matthäus-Passion (jene für zwei Chöre), sowie die Markus-Passion. Von der letzteren genannten Passion ist jedoch die Musik verschollen. Eine vierte Passion, die sogenannte Lukas-Passion wurde zwar von Bach abgeschrieben und wohl auch aufgeführt, aber sie gilt als das Werk eines Zeitgenossen, über dessen Identität sich die Bachforschung bisher nicht geeinigt hat. Die Johannes-Passion und die Matthäus-Passion sind die einzigen vollständig erhaltenen Passionen Bachs.
An diesem fett hervorgehobenen Forschungsstand hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Die unleugbar vorhandenen Qualitäten dieser "apokryphen" Lukaspassion BWV 246 Anh.II,30 legen aber doch eine etwas ausführlichere Beschäftigung mit der Komposition nahe.
Unzweifelhaft ist, daß das Werk in einer gemeinsamen Abschrift von Johann Sebastian und seinem Sohn Carl Philipp Emanuel überlebt hat. Stilistische Merkmale und Stilvergleiche mit der bekannten Bachschen Kirchenmusik machen aber ebenso unzweifelhaft deutlich, daß das Werk nicht aus der Feder eines Bachs stammt. Zum ersten Mal nach Bachs Tod begegnen wir der Handschrift im Besitz des Bach-Sammlers Franz Hausers, der das Manuskript vom Verlag Breitkopf, der es vermutlich aus dem Nachlass des Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann hatte. Er zeigte die Partitur Felix Mendelssohn-Bartholdy, der auch sofort die Echtheit des Werkes als Kompostioin Johann Sebastian Bachs anzweifelte: "... wenn das von Sebastian ist, so lass ich mich hängen, und doch ist's seines Handschrift. Aber es ist zu reinlich, er hat es abgeschrieben." Ebenso ließ Johannes Brahms keinen Zweifel daran, daß das Werk nicht von Bach stammen könne. Einzig der bekannte Bachforscher und -biograph Philipp Spitta hielt das Werk für echt, er vermutete ein Jugendwerk. Durch seine Autorität wurde sie in die alte Bachausgabe aufgenommen und erhielt sogar noch 1950 in Wolfgang Schmieders Bach-Werke-Verzeichnis die Nummer 246. 1911 erhielten die stilkritischen Urteile Mendelssohns und Brahms auch eine wissenschaftliche Grundlage. Max Schneider konnte die Mitwirkung und die Handschrift Carl Philipp Emanuels nachweisen.
Wer aber ist der Komponist dieser Passion nach dem Evangelisten Lukas? Einen Namen kann man nicht nennen, dazu gibt es zu wenig gesicherte Quellen. Letztlich kann man sich der Frage nur stilkritisch nähern. Diese Disziplin der Wissenschaft ist besonders fehleranfällig und taugt nur in den seltensten Fällen zu einer gesicherten Zuschreibung.
Stilistisch läßt sich festhalten, daß der Evangelienbericht, also die Rezitative, und die Turba-Chöre in einer in der Generation vor Bach gebräuchlichen Kompositionsweise gehalten sind. Auffällig ist, daß sie wesentlich weniger, die dramatische Handlung und den Affekt der kochenenden Volksseele in Musik übertragen als wir es aus der Johannes- od. der Matthäuspassion kennen. Die Choräle sind in ihrer Harmonisierung wesentlich schlichter gehalten als in den authentischen Bachschen Passionen. Interessant ist, daß die freien Musikstücke (also die Arien, das Terzett und der Eingangschor) in ihrer Kompositionsweise eindeutig in die Generation der Bach-Söhne, Hasses und der beiden Grauns weisen.
Zusammenfassend läßt sich aus diesen Umständen vermuten, daß unsere vorliegende Passion das Werk eines mitteldeutschen Komponisten aus den späten 11720er- od. frühen 1730er-Jahren ist. Stilistisch würde das Werk gut zu erst nach 1990 zugänglich gemachten Kirchenkompositionen Johann Melchior Molters aus seiner ersten Eisenacher Zeit passen. Seine Kantaten haben in der Rezitativbehandlung und den Chorälen eine sehr ähnliche altertümliche Anlage, während die Arien und freien Chöre schon deutlich in einen empfindsamen Stil voraus weisen. Würde man die Autorschaft Molters als gegeben annehmen, wäre das Werk vermutlich am 23.4.1734 als Antrittsmusik in der Hof- und Stadtkriche St. Georg in Eisenach aufgeführt worden. Unter den Mitwirkenden wäre an der Orgel Johann Bernhard Bach gewesen, über den das Werk zu Bach nach Leipzig gekommen sein dürfte. Die Abschrift durch die Bachs wäre dann 1734 vor dem Auszug Carl Philipp Emanuels anläßlich der Aufnahme seines Jurastudiums an der Universität Frankruft/ Oder angefertigt worden und das Werk am Karfreitag 1735 zum ersten Mal in Leipzig erklungen.
So schlüssig diese Indizienkette wirkt, gibt es doch eine entscheidende Einschränkung: Untersuchungen an den Schriftzügen Carl Philipp Emanuels legen eine Entstehung der Abschrift vor den 1730-Jahren nahe. Dann allerdings wäre Molter nicht der Komponist und das Werk müßte weiterhin als Schöpfung des produktivsten Komponisten der Musikgeschichte, eines gewissen Herrn Anonymus, gelten.
Bach schätze wohl das schlichte und vielleicht gerade deshalb anrührende Werk. Neben einer Aufführung in 1730er-Jahre ist eine weitere Aufführung in seiner letzten Lebensdekade verbürgt.