BWV 246 Anh. II,30 - Lukas-Passion

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    Im Nachlassverzeichnis von Johann Sebastian Bach aus dem Jahre 1754 wird davon gesprochen, dass der alte Kantor fünf Passionen, davon eine für zwei Chöre, komponiert hatte. Doch bis heute sind nur drei Passionen bekannt, die Johannes-Passion, die Matthäus-Passion (jene für zwei Chöre), sowie die Markus-Passion. Von der letzteren genannten Passion ist jedoch die Musik verschollen. Eine vierte Passion, die sogenannte Lukas-Passion wurde zwar von Bach abgeschrieben und wohl auch aufgeführt, aber sie gilt als das Werk eines Zeitgenossen, über dessen Identität sich die Bachforschung bisher nicht geeinigt hat. Die Johannes-Passion und die Matthäus-Passion sind die einzigen vollständig erhaltenen Passionen Bachs.


    An diesem fett hervorgehobenen Forschungsstand hat sich bis auf den heutigen Tag nichts geändert. Die unleugbar vorhandenen Qualitäten dieser "apokryphen" Lukaspassion BWV 246 Anh.II,30 legen aber doch eine etwas ausführlichere Beschäftigung mit der Komposition nahe.


    Unzweifelhaft ist, daß das Werk in einer gemeinsamen Abschrift von Johann Sebastian und seinem Sohn Carl Philipp Emanuel überlebt hat. Stilistische Merkmale und Stilvergleiche mit der bekannten Bachschen Kirchenmusik machen aber ebenso unzweifelhaft deutlich, daß das Werk nicht aus der Feder eines Bachs stammt. Zum ersten Mal nach Bachs Tod begegnen wir der Handschrift im Besitz des Bach-Sammlers Franz Hausers, der das Manuskript vom Verlag Breitkopf, der es vermutlich aus dem Nachlass des Bach-Sohnes Wilhelm Friedemann hatte. Er zeigte die Partitur Felix Mendelssohn-Bartholdy, der auch sofort die Echtheit des Werkes als Kompostioin Johann Sebastian Bachs anzweifelte: "... wenn das von Sebastian ist, so lass ich mich hängen, und doch ist's seines Handschrift. Aber es ist zu reinlich, er hat es abgeschrieben." Ebenso ließ Johannes Brahms keinen Zweifel daran, daß das Werk nicht von Bach stammen könne. Einzig der bekannte Bachforscher und -biograph Philipp Spitta hielt das Werk für echt, er vermutete ein Jugendwerk. Durch seine Autorität wurde sie in die alte Bachausgabe aufgenommen und erhielt sogar noch 1950 in Wolfgang Schmieders Bach-Werke-Verzeichnis die Nummer 246. 1911 erhielten die stilkritischen Urteile Mendelssohns und Brahms auch eine wissenschaftliche Grundlage. Max Schneider konnte die Mitwirkung und die Handschrift Carl Philipp Emanuels nachweisen.


    Wer aber ist der Komponist dieser Passion nach dem Evangelisten Lukas? Einen Namen kann man nicht nennen, dazu gibt es zu wenig gesicherte Quellen. Letztlich kann man sich der Frage nur stilkritisch nähern. Diese Disziplin der Wissenschaft ist besonders fehleranfällig und taugt nur in den seltensten Fällen zu einer gesicherten Zuschreibung.
    Stilistisch läßt sich festhalten, daß der Evangelienbericht, also die Rezitative, und die Turba-Chöre in einer in der Generation vor Bach gebräuchlichen Kompositionsweise gehalten sind. Auffällig ist, daß sie wesentlich weniger, die dramatische Handlung und den Affekt der kochenenden Volksseele in Musik übertragen als wir es aus der Johannes- od. der Matthäuspassion kennen. Die Choräle sind in ihrer Harmonisierung wesentlich schlichter gehalten als in den authentischen Bachschen Passionen. Interessant ist, daß die freien Musikstücke (also die Arien, das Terzett und der Eingangschor) in ihrer Kompositionsweise eindeutig in die Generation der Bach-Söhne, Hasses und der beiden Grauns weisen.
    Zusammenfassend läßt sich aus diesen Umständen vermuten, daß unsere vorliegende Passion das Werk eines mitteldeutschen Komponisten aus den späten 11720er- od. frühen 1730er-Jahren ist. Stilistisch würde das Werk gut zu erst nach 1990 zugänglich gemachten Kirchenkompositionen Johann Melchior Molters aus seiner ersten Eisenacher Zeit passen. Seine Kantaten haben in der Rezitativbehandlung und den Chorälen eine sehr ähnliche altertümliche Anlage, während die Arien und freien Chöre schon deutlich in einen empfindsamen Stil voraus weisen. Würde man die Autorschaft Molters als gegeben annehmen, wäre das Werk vermutlich am 23.4.1734 als Antrittsmusik in der Hof- und Stadtkriche St. Georg in Eisenach aufgeführt worden. Unter den Mitwirkenden wäre an der Orgel Johann Bernhard Bach gewesen, über den das Werk zu Bach nach Leipzig gekommen sein dürfte. Die Abschrift durch die Bachs wäre dann 1734 vor dem Auszug Carl Philipp Emanuels anläßlich der Aufnahme seines Jurastudiums an der Universität Frankruft/ Oder angefertigt worden und das Werk am Karfreitag 1735 zum ersten Mal in Leipzig erklungen.
    So schlüssig diese Indizienkette wirkt, gibt es doch eine entscheidende Einschränkung: Untersuchungen an den Schriftzügen Carl Philipp Emanuels legen eine Entstehung der Abschrift vor den 1730-Jahren nahe. Dann allerdings wäre Molter nicht der Komponist und das Werk müßte weiterhin als Schöpfung des produktivsten Komponisten der Musikgeschichte, eines gewissen Herrn Anonymus, gelten.


    Bach schätze wohl das schlichte und vielleicht gerade deshalb anrührende Werk. Neben einer Aufführung in 1730er-Jahre ist eine weitere Aufführung in seiner letzten Lebensdekade verbürgt.

    • Offizieller Beitrag

    Letztlich kann man sich der Frage nur stilkritisch nähern. Diese Disziplin der Wissenschaft ist besonders fehleranfällig und taugt nur in den seltensten Fällen zu einer gesicherten Zuschreibung.


    So ist es; bei Bach bin ich nicht so firm, wenn ich aber zu Mozart switche und dessen frühere Opern in die Nähere Betrachtung ziehe, die von Joh. Chr. Bach stammen könnten, so wird die ganze Aktion doch sehr schwammig - warum sollte ein junger Bach nicht anders komponiert haben als DER Bach, den alle als Bach anerkennen?


    Möglicher Weise handelt es sich natürlich auch ggfs. um ein Potpourri aus Werkteilen diverser Komponisten oder um ein Gemeinschaftswerk diverser Herren Bach? (Wofür u.a. die stilistische Vielfalt spricht, aber letztlich nicht wirklich maßgebend ist, wenn man z.B. Voglers Requiem in Relation setzt). Letztlich entscheidend ist die musikalische Wirkung, die Musik an sich, das Gesamtwerk. Wen interessiert es da, wessen Namen es trägt?

  • Vielen Dank für deine Ausführungen über dieses Werk, welches ja dazu neigt, kaum mehr wahrgenommen zu werden... *yepp*


    Ich hätte aber noch eine Frage zu den Daten:


    Würde man die Autorschaft Molters als gegeben annehmen, wäre das Werk vermutlich am 23.4.1734 als Antrittsmusik in der Hof- und Stadtkriche St. Georg in Eisenach aufgeführt worden.

    Das ist natürlich der Karfreitag, wo es denn aufgeführt worden wäre - im ersten Jahr am Hofe Sachsen-Eisenachs.

    Die Abschrift durch die Bachs wäre dann vor 1734 angefertigt worden und das Werk am Karfreitag 1735 zum ersten Mal in Leipzig erklungen.

    Wieso vor 1734? Warum nicht nach der Aufführung in Eisenach? Bis Karfreitag 1735 hätte die Zeit doch ausgereicht, es zu kopieren.

    Untersuchungen an den Schriftzügen Carl Philipp Emanuels legen eine Entstehung der Abschrift vor den 1730-Jahren nahe. Dann allerdings wäre Molter nicht der Komponist und das Werk müßte weiterhin als Schöpfung des produktivsten Komponisten der Musikgeschichte, eines gewissen Herrn Anonymus, gelten.

    Weshalb nicht? Durfte er als Kapellmeister am Badischen Hof keine Lukas-Passion komponiert haben? Liegt es daran, daß die Autographe in Karlsruhe dieses Werk nicht enthalten?



    jd :wink:

    • Offizieller Beitrag


    Diesbezüglich gab es m. W. diverse Versuche, im bewährten Parodie-Verfahren zu rekonstruieren. Ob das gelungen ist - und überhaupt Sinn abseits des Marketings ergibt -, entzieht sich meiner Kenntnis.


  • So ist es [...]

    Da würde ich grundsätzlich nicht widersprechen. Mich würde aber dennoch interessieren, wer es in der möglichen Zeitspanne von ca. 1720 bis ca. 1735 geschaffen hat. Denn ich persönlich kann mich gut daran erinnern, daß es nicht nach Johann Sebastian klingt.



    jd :wink:

    • Offizieller Beitrag

    daß es nicht nach Johann Sebastian klingt.


    Das ist - wie ich es anzudeuten versuchte - sehr fadenscheinig. Lucio Silla und Mithridate klingen auch nicht „wie Mozart“ (im Vergleich zu den drei da-Ponte-Opern). Es sind nicht alle Komponisten so stur (was ich durchaus auch schätze) wie Naumann oder Bruch, die sich allem stilistischen Wandel widersetzen. Ich halte es zumindest für theoretisch (!) möglich, daß es es sich bei der LP um ein früheres Werk Bachs handelt, der keine Rücksicht auf den stilistischen Wandel nahm (was er ja ohnehin kaum tat).


    Daß etwas nicht „nach XY klingt“ sagt erst einmal nicht mehr, als daß es nicht nach XY klingt. Vide Mozart KV 574... ;) - das klingt eher nach Ligeti oder wie ein schlechter Aprilscherz... aber komischer Weise ist GENAU DAS Mozart...


    Paradebeispiel: Wenn man vergleicht, was heute z.B. als Mozart-Parodie unumstritten und eindeutig durchgeht mit dem, was Zeitgenossen (z.B. Clementi in stilo mozartiano via gradus ad parnassum) verfasste: da fasst man sich an den Kopf und frag sich durchaus, was kannte der (Blödmann) von Mozart? Wie kommt der darauf? Klar, daß Clementi heute vergessen ist, weil der keine Ahnung hatte... ;) Was hat DAS mit Mozart zu tun: ganz klar, mehr als das, was wir heute für Mozart halten. Ganz ähnlich sehe ich das auch bei Bach.


    Es liegt in der Natur der Sache, erfahren zu wollen, WER konkret diese Musik verfasst hat. Wir werden es vermutlich niemals erfahren... also genießen wir die Musik als das, was sie ist; als zeitlose Musik; und selbst dann, wenn sie 2016 komponiert wurde.

  • Das ist natürlich der Karfreitag, wo es denn aufgeführt worden wäre - im ersten Jahr am Hofe Sachsen-Eisenachs.


    Genau, eine andere Möglichkeit der Aufführung eines derartig liturgisch gebundenen Werkes bestand 1734 in Eisenach nicht


    Danke für das aufmerksame Lesen, so ist der Satz tatsächlich falsch bzw. wirft genau Deine Frage auf. 1734 immatrikulierte sich Carl Philipp Emanuel im Fach Jura an der Universität Frankfurt/ Oder. Dazu zog er natürlich zu Hause aus und nahm seinen Wohnsitz in Frankfurt/ Oder. Da die Abschrift der Lukaspassion aber gemeinsam mit seinem Vater erfolgte, muß die Abschrift vor seinem Auszug im Jahre 1734 erfolgt sein. Korrekt verortet wäre die Abschrift dann zwischen der Uraufführung am 23.4. und dem Auszug C. P. E. aus dem Elternhaus.



    Zitat

    Weshalb nicht? Durfte er als Kapellmeister am Badischen Hof keine Lukas-Passion komponiert haben? Liegt es daran, daß die Autographe in Karlsruhe dieses Werk nicht enthalten?

    Molter hätte schon eine Lukaspassion in Karlsruhe komponieren dürfen. In der Tat ist aber keine Passion Molters für Karlsruhe verbürgt, die Autographe, heute in der Badischen Landesbibliothek, enthalten kein einziges derartiges Werk. Offenbar gehörte die Komposition der Figuralmusik für den Karfreitag nicht zu Molters Aufgaben in Karlsruhe.

  • Zitat

    Das ist - wie ich es anzudeuten versuchte - sehr fadenscheinig. [...]

    Ehrlich gesagt: mich würde es überraschen, wenn es JSB es tatsächlich auch komponiert haben sollte. Denn dann müßte es ein wirklich sehr frühes Werk sein (sowas wie 1700-1710). Es unterscheidet sich so dermaßen von den Passionen und Kantaten. Klar, er könnte früher anders geklungen haben, aber ich glaube nicht so recht daran.


    Ohne Frage: die Autorenschaft ist eine Spekulation, die nur durch das Auffinden einer anderen Quelle aufgelöst werden könnte. Daß Bach es schätzte, sagt sicherlich viel über die Wirkung dieser Passion aus. Ob es ein Potpourri ist? Möglich - es ist jedenfalls ziemlich konsequent durchstrukturiert worden. Eine Adaption?


    Dabei will ich gar nicht eine große Bresche schlagen - ich bin nur daran interessiert, mehr über die Fakten zu erfahren. Eine Grundsatzdiskussion wollte ich nicht auslösen.



    jd :wink:

  • Zitat

    bei Bach bin ich nicht so firm, wenn ich aber zu Mozart switche und dessen frühere Opern in die Nähere Betrachtung ziehe, die von Joh. Chr. Bach stammen könnten, so wird die ganze Aktion doch sehr schwammig - warum sollte ein junger Bach nicht anders komponiert haben als DER Bach, den alle als Bach anerkennen?

    entscheidend ist die musikalische Wirkung, die Musik an sich, das Gesamtwerk. Wen interessiert es da, wessen Namen es trägt?
    Dann wäre es aber ein ziemlicher Solitär unter den Werken Johann Sebastians.


    Mir ist kein einziges Jugendwerk Bachs bekannt, das stilistisch in die Richtung der Lukaspassion ginge. Die frühen Kantaten folgen entweder noch einem anderen Muster (z.B. Actus tragicus BWV 106), das in seiner Umsetzung mit fließend ineinander übergehenden "Sätzen", die eher Abschnitte sind, viel näher an der früh- und hochbarocken Motette ist. Die Lukaspassion hat dagegen klar definitive Einzelsätze, bei denen der Choral quantitativ eine bedeutende Rolle spielt.


    Gleichzeitig ist mir kein Werk Johann Sebastians bekannt, in dem er in den Arien die Holzbläser, besonders Oboe und Fagott, ähnlich solistisch einsetzt. Hier scheint mir eine Autorschaft Johann Sebastians gänzlich ausgeschlossen, denn sonst müßten Parallelen im übrigen Werk Bachs zu finden sein. Zudem weisen diese Sätze stilistisch schon in die Zeit Hasses oder Grauns, etwas was bei Bach sonst auch nirgendwo anders im erhaltenen Werk vorkommt.


    Ein weiterer Fingerzeig für die nicht gegebene Autorschaft Bachs ist die Harmonik in den Chorälen und Rezitativen. Hier scheint nirgend auch nur annähernd die reiche und von vielen Vorhaltsbildungen gekennzeichnete Bachsche Harmoniesprache auf.



    Ich lege mich da schon eindeutig fest: Die Passion ist nicht von Johann Sebastian! Das tut dem Werk aber keinen Abbruch!


    Zitat

    Möglicher Weise handelt es sich natürlich auch ggfs. um ein Potpourri aus Werkteilen diverser Komponisten oder um ein Gemeinschaftswerk diverser Herren Bach? (Wofür u.a. die stilistische Vielfalt spricht, aber letztlich nicht wirklich maßgebend ist, wenn man z.B. Voglers Requiem in Relation setzt). Letztlich entscheidend ist die musikalische Wirkung, die Musik an sich, das Gesamtwerk. Wen interessiert es da, wessen Namen es trägt?


    Auch hier sind mir keine Parallelen bekannt. Zudem erscheint es zumindest befremdlich, warum Johann Sebastian gerade stilistisch derartige divergente Partien kompiliert haben sollte. Eine theologische oder werkimanente Aussage ist in meinen Augen jedenfalls nicht feststellbar. Wäre da eine vollständige Neukomposition da nicht einfacher gewesen?

    • Offizieller Beitrag

    Zudem erscheint es zumindest befremdlich, warum Johann Sebastian gerade stilistisch derartige divergente Partien kompiliert haben sollte.


    Aber abgeschrieben hat er sie; warum das denn dann?


    Meine Meinung (aus eigener Erfahrung): wer etwas abschreibt, findet auch etwas besonderes daran...


    Zitat

    Wäre da eine vollständige Neukomposition da nicht einfacher gewesen?


    Das fragt man sich oft, gerade bei Barockkomponisten. Offenbar also nicht. Oder vielleicht doch, aber es wäre Verschwendung gewesen, einmal aufgeführte Musik nicht noch einmal zu verwenden.


  • Aber abgeschrieben hat er sie; warum das denn dann?


    Meine Meinung (aus eigener Erfahrung): wer etwas abschreibt, findet auch etwas besonderes daran...

    Na ja, abschreiben war ja unumgänglich, um eine Aufführung zu ermöglichen,es mußte ja auch Aufführungsmaterial erstellt werden. Davon abgesehen hat er die Passion sicher geschätzt. Es war aber ganz sicher auch arbeitstechnisch wesentlich weniger aufwendig, die Passion abzuschreiben als sie zusammenzustellen. Darüber hinaus ist das Fehlen einer stilistisch ähnlich divergenter Komposition, ja sogar das Fehlen solch "einfacher" Rezitative und Choräle in Bachs Werk ein sehr starkes Argument gegen eine Urheberschaft Bachs.