ZitatAlles anzeigenDer Text des Werkes kombiniert Bibelverse mit Versen einer mittelalterlichen Andachtsdichtung, die zu Buxtehudes Zeit unter dem Namen Domini Bernhardi Oratio Rhythmica (Herrn Bernhards Reimgebet) bekannt war und als Werk des heiligen Bernhard von Clairvaux angesehen wurde, heute aber Arnulf von Löwen zugeschrieben wird. Diese Dichtung besteht aus sieben Teilen, die in aufsteigender Reihenfolge einer Körperpartie des Gekreuzigten gewidmet sind: Füße, Knie, Hände, Seite, Brust, Herz, Gesicht. Jeder Teil hat fünf zehnzeilige Strophen (der dem Herz gewidmete Teil sieben), von denen jede wieder in zwei fünfzeilige Halbstrophen unterteilt ist. Der siebte Teil Salve caput cruentatum hatte schon Paul Gerhardt als Vorlage für das Kirchenlied O Haupt voll Blut und Wunden gedient, das der Passionchoral schlechthin wurde und auch von Johann Sebastian Bach in der Matthäus-Passion verwendet wurde. (Auch die Lieder Sei mir tausendmal gegrüßet und O Herz des Königs aller Welt sind Übertragungen Paul Gerhardts von Teilen - erster bzw. sechster - des Zyklus.) Aus den jeweils zehn oder vierzehn Halbstrophen jedes Teils der Rhythmica Oratio wählte der Kompilator (vermutet wird Buxtehude selbst) für jeden Körperteil jeweils drei aus. Als Rahmen für die drei Halbstrophen wählte er passende Bibelstellen aus, die sich auf den jeweiligen Körperteil bezogen.
Der Zyklus besteht der literarischen Vorlage entsprechend aus sieben einzelnen Kantaten, die in aufsteigender Reihenfolge einer Körperpartie des Gekreuzigten gewidmet sind. Die einzelnen Kantaten haben in der Regel den folgenden Aufbau:
- Sonata: instrumentale Einleitung
- Concerto: Bibelwort, das auf das jeweilige Körperteil hinweist (meist dem Alten Testament entnommen), als Chorstück (meist SSATB, in Kantate 5 ATB, in Kantate 6 SSB, wobei der „Chor“ aus den Solosängern bestehen kann)
- drei musikalisch ähnliche bis identische Arien auf den Text von drei Halbstrophen der Oratio Rhythmica (meistens zwei Soli und ein Terzett) mit dazwischen liegenden Instrumentalritornellen
- Wiederholung des Concerto
Der Grundaufbau wird in den Rahmenkantaten 1 und 7 variiert durch stärkeren Choreinsatz, der ihnen besonderes Gewicht verleiht, während die Kantaten 5 und 6, die der Brust und dem Herzen gewidmet sind, kleiner besetzt sind als die übrigen, um die Innerlichkeit dieser Teile zu betonen. Im Einzelnen weichen die Kantaten wie folgt von dem Grundschema ab: In Kantate 1 folgt auf die Wiederholung des Concertos eine Wiederholung der ersten Arie im Chorsatz. In Kantate 5 und 6 wird das Bibelwort dreistimmig gesungen, alle Halbstrophen sind Soloarien. In Kantate 7 singt der Chor die dritte Halbstrophe. Anschließend wird nicht das Concerto wiederholt, sondern es folgt ein abschließender Chorsatz Amen.
Betrachtet man dieses Werk genauer, dann wird man sehen; dass es sich durchaus um ein Stück der Zeit handelt, um eine bekannte und gebräuchliche Gattung mit den damals möglichen und weit verbreiteten Ausdrucksmöglichkeiten textlicher und musikalischer Art. Dennoch erfreut es sich einer vergleichsweise geradezu spektakulären Beliebtheit gerade unter den jüngeren Generationen, die mit der historisch informierten Aufführungspraxis bereits großgeworden sind, was sich in einer immensen Diskographie ausdrückt. Selbst wenn man diesen Musterbeispielen der hochbarocken „Concerto-Aria-Kantate“ eine besondere formale Geschlossenheit und starke Expressivität attestiert, auch die Variationen des Grundaufbaus und die Gewichtung des Chores einrechnet; lässt sich diese Focusierung nicht hinreichend erklären. Was um Himmels Willen ließ Buxtehudes Zyklus zum barocken Kassenschlager mutieren?