Die „alten Schinken“ von morgen: die Neuaufnahme

    • Offizieller Beitrag

    Seit die Geschichte der Tonaufnahme ihren großartigen Verlauf begann, kristallisierten sich irgendwann Werke heraus, die immer häufiger als andere immer wieder von unterschiedlichen Interpreten aufgezeichnet und herausgegeben wurden. Mir geht es in diesem Thread nicht so detailversessen auf das Warum? und auch nicht, warum einige Werke mehr, andere weniger häufig eingespielt wurden (Stichwort: Vivaldis „Quattro stagioni“, Bachs „Brandenburgische“ Konzerte etc.), sondern um die Sichtweise der Konsumenten, also von uns Klassikhörern. Mir ist klar, daß das teilweise Hand in Hand geht, aber schauen wir mal ...

    Interpretationsweisen und -ansätze verändern sich im Laufe der Zeit; bei frühen Tonaufnahmen war die korrekte Wiedergabe des Notentextes nicht gar so wichtig wie heute; Verspieler wurden geduldet, manchmal war es nur die tontechnische Unreife, diese Fehler - wie wir es heute bei Studioaufnahmen machen - ausmerzen zu können. Über die Richtigkeit der Notentexte wurde nicht weiter befunden, der Druck galt als korrekt, die Wahl des Instrumentes spielte keine besonders große Rolle, es sei denn, es handelte sich um ein oder mehrere von großen, bekannten Firmen gesponsorte oder zur Verfügung gestellte Instrumente. Gesangs- und Spieltechniken wurden ausgefeilter und perfektionierter. Der historische Hintergrund zu den Werken verschaffte sich plötzlich in den Vordergrund und Werke von weniger bekannten Zeitgenossen umgaben die Werke, die im Elfenbeinturm allein vor sich hin herrschten.

    Ich persönlich bin an jungen Interpreten, neuen Sicht- und Spielweisen immer interessiert, finde es faszinierend, wie konträr diese Aufnahmen teilweise zu den herkömmlichen Bestandsaufnahmen klingen, welche Dinge sich komischer Weise nie ändern, welche ständig. Ich höre Aufnahmen - geschätzt, erfahrungsgemäß - ein bis drei Jahre relativ regelmäßig, dann sind sie mir irgendwie über und langweilig und ich möchte etwas anderes, neues haben und hören: eine neue Stimme, ein anderes Instrument, andere Tempi und Sichtweisen. Wenige aufnahmen setzen sich bei mir so durch, daß ich sie auch Jahre später noch als meine Referenz deuten würde, weil einfach nichts besseres nachkam; das kann ich aber nur beurteilen, wenn ich relativ aktuell am Ball bleibe, was natürlich auch mir nicht immer und nicht in allen Bereichen gelingt - bei den Werken, auf die ich meinen Focus setze, hingegen meistens schon (zumindest sehr viel öfter).

    Also: warum also und wie häufig schafft ihr Neuaufnahmen an oder gerade nicht an? Was fasziniert euch an Neuaufnahmen, was stößt euch ab?
    :rolleyes:

  • Ich sehe das viel universeller: als Zeugnis von Interpreten, als Momentaufnahmen für die Ewigkeit. Dabei spielt es gar keine so große Rolle, wann sie gemacht worden sind, denn überzeugen müssen sie jeden Hörer - egal, wann oder wo. Das gelingt natürlich nicht immer, aber man kann halt nicht alles haben.

    Auch wenn ich bestimmte Vorlieben habe - Alte Musik grundsätzlich lieber HIP/opi - , so muß ich gestehen, daß ich die Altvorderen nicht deswegen obsolet sehe, weil ihre Aufnahmen lange zurückliegen. Vielmehr bedarf es einer konkreten Fall-zu-Fall-Betrachtung, die jedoch nicht jeder Hörer zwingend zu absolvieren hat. Dabei können unterschiedlich gewichtige Gründe eine Rolle spielen.

    Mir kommt es in manchen Fällen überhaupt nicht auf die Spieltradition an, denn die meisten Aufnahmen sind bei Weitem nicht so extrem gestaltet, daß einem Alles vergeht. Vielmehr kommt Ab- oder Zuneigung erst auf, wenn man sich in die Materie vertieft hat. Deswegen finde ich auch die Tipps an Neuhörer der Klassischen Musik so idiotisch, wo Kenner gleich auf Interpretation Wert legen.

    Und das eigene Profil hat mehr Gewicht als manche glauben: gefällt einem die Nase des Dirigenten, stimmen die Vorschläge, ist so'n Rücken aufm Cover nicht entzückend, ist der Duktus langsam und weihevoll, ist das Timbre ansprechend usw. usf. Alles gute Gründe, um Wertungen anzustellen - wenn auch keine allgemein Verbindlichen... *hä*

    Mir reicht es schon, eine weite Palette an Möglichkeiten hören zu können. In bestimmten Bereichen (Renaissancepolyphonie) lege ich Wert auf bestimmte Ensembles und Realisationen, in anderen dagegen (Kammermusik des 19. Jahrhunderts) reicht es mir, sie zunächst zu hören - mal im einen Fall, mal im anderen.

    Bei historischen Aufnahmen dagegen ist mir der Aspekt omi/opi - HIP/traditionell zwangsläufig unwichtig - da lege ich Wert auf erhaltene Zeitgeschichte.


    jd :wink:

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

    • Offizieller Beitrag

    Ich persönlich bin an jungen Interpreten, neuen Sicht- und Spielweisen immer interessiert, finde es faszinierend, wie konträr diese Aufnahmen teilweise zu den herkömmlichen Bestandsaufnahmen klingen, welche Dinge sich komischer Weise nie ändern, welche ständig. Ich höre Aufnahmen - geschätzt, erfahrungsgemäß - ein bis drei Jahre relativ regelmäßig, dann sind sie mir irgendwie über und langweilig und ich möchte etwas anderes, neues haben und hören: eine neue Stimme, ein anderes Instrument, andere Tempi und Sichtweisen. Wenige aufnahmen setzen sich bei mir so durch, daß ich sie auch Jahre später noch als meine Referenz deuten würde, weil einfach nichts besseres nachkam; das kann ich aber nur beurteilen, wenn ich relativ aktuell am Ball bleibe, was natürlich auch mir nicht immer und nicht in allen Bereichen gelingt - bei den Werken, auf die ich meinen Focus setze, hingegen meistens schon (zumindest sehr viel öfter).

    Auch ich bin an Neuem interessiert; aber ansonsten bin ich ganz anders gepolt als du. Mir wird kein Werk über oder langweilig; im Gegenteil werden mir viele über die Jahre immer lieber. Ich finde es immer wieder spannend, mit meiner Sammlung zu leben; die Aufnahmen hervorzukramen und nach Jahren neu zu hören. Ganz verworfen wird da kaum eine, es ergeben sich immer neue Sichtweisen. Da ich auch leidlich genug neue Aufnahmen erwerbe, habe ich auch immer meinen persönlichen Überblick über Referenzen und Co. Und, lieber Ulli, ich kann es mir nicht verkneifen; aber du weißt, wie sehr ich dich schätze; daher sage ich, dass diese meine Herangehensweise mir "natürlicher" vorkommt als die deine. :)

    Also: warum also und wie häufig schafft ihr Neuaufnahmen an oder gerade nicht an? Was fasziniert euch an Neuaufnahmen, was stößt euch ab?
    :rolleyes:

    Meine Interessen hinsichtlich klassischer Musik sind vielfältig, wie ihr wisst: Ich höre alles, von der Alten (Frühen) Musik (mittelalterliche Musik: Gregorianik, flämische Polyphonie, Reformation, Gegenreformation, Renaissance) über den Barock (Schwerpunkt geistliche Musik), die Frühklassik, Klassik, Romantik, Spätromantik bis zur Moderne; natürlich mit diversen Schwerpunkten. Entsprechend vielfältig sind auch meine Neuerwerbungen, die vor allem meine Lieblingsthemen beackern. So kaufe ich in der Regel alle wichtigen Neueinspielungen von Schütz, Wagner, Bruckner; aber auch andere Sachen zu Schubert oder Beethoven, die ich hier oder anderswo empfohlen bekommen habe. Da aber mein ganzes Kauf- und Hörvolumen auf enorm breiter Basis steht und ich offensichtlich mehr Geld und Zeit investieren kann als die meisten hier, verteilen sich meine Käufe insgesamt auch breiter, so dass die vielen Neuaufnahmen zwischen den historischeren und den neu aufgelegten oder remasterten nicht so herausstechen.

    Das ist nun mal so: Die Karajan-Box mit über 100 CDs wird mich auf Monate hin beschäftigen; aber ich will das auch so. Dennoch hatte ich mit Staiers Schubert, dem Don Giovanni des Currentzis oder Haydns Klaviertrios auch wichtige ganz neue Erlebnisse zuletzt. Ich bleibe dabei: Neuerwerbungen wirklich ganz aktueller Sachen werden bei einem Sammler, der wie ich bereits Jahrzehnte im Geschäft ist, nie den Stellenwert haben können wie bei nicht so stark sammelnden Hörern. Dafür ist das Repertoire einfach zu gut aufgestellt, sind die Interessen verfestigt und die Geschmäcker verfeinert. Und ich halte mir zugute, dass ich neben JD der einzige hier bin, der wirklich ständig und oft über den Tellerrand schaut. Das ist nicht arrogant oder abwertend gemeint; ich schätze kernige Überzeugungen wie die Ullis oder Spezialgebiete wie die von Palestrina und Falstaff. Aber ich nehme für mich in Anspruch, durchaus offen für so ziemlich alles im Bereich der Klassik zu sein und empfinde daher "Vorwürfe", man würde zu wenig Neues ins Auge fassen, als unbegründet.

    • Offizieller Beitrag

    1. In CD-Läden, in die ich leider oder Gott sei Dank selten komme, kaufe ich in der Regel vor Ort deutlich mehr neuere Aufnahmen.

    2. Neu erschlossenes Repertoire wie bislang unveröffentlichte Opern oder geistliche Musik bei cpo kaufe ich eigentlich immer.

    3. Ich schaue auf Sky Unitel Classica, ARTE, 3sat und den anderen Sendern im Grunde jede neuere Aufführung und Konzertübertragung.

    • Offizieller Beitrag

    Überblick über Referenzen und Co. Und, lieber Ulli, ich kann es mir nicht verkneifen; aber du weißt, wie sehr ich dich schätze; daher sage ich, dass diese meine Herangehensweise mir "natürlicher" vorkommt als die deine.


    Ich weiß nicht, was natürlich, natürlicher oder unnatürlich ist ... insofern: ich kann, wie auch immer, damit sehr gut leben, unnatürlich zu sein. Kunst ist nie natürlich :D

    • Offizieller Beitrag

    Bei historischen Aufnahmen dagegen


    Die interessieren mich einfach per se nicht, weil ich mit diesen Leuten einfach nichts am Hut hatte und habe; bitte nicht negativ verstehen - wahrscheinlich ergeht es mir in 40 Jahren ähnlich, wenn ich von meinen derzeitigen Favouriten schwärme. Ich habe einfach a) keinen Bezug dazu, b) interessiert mich das Werk in einer möglichst authentischen Wiedergabe (nachwievor sehe ich das Werk nicht als Summe seiner Interpretationen, sondern vielmehr als die Summe aus Einzelaspekten vieler Interpretationen, die nur mal zusammengebracht gehören!), c) interessiert mich veraltete Aufnahmetechnik sowie die Spielpraxen des vorigen Jahrhunderts einfach überhaupt nicht; das ist ein separates Interessenfeld, daß man theoretisch von der gespielten Musik selbst lösen könnte; für mich ist das kein Gewinn. Wenn, dann müßte es schon wieder so alt sein, daß es sich um Originalaufnahmen von Händel oder Mozart handelte ... da ließe ich mit mir reden (wie z.B. bei historischen Musikautomaten).

    Anders ist das natürlich bei Werken, die genau in jener Zeit entstanden sind (Britten, Shostakovich, Rachmaninov etc.) - da interessieren mich die Aufnahmen jener Zeit besonders und ich würde sie sogar, entsprechende Klangqualität vorausgesetzt, modernen Aufnahmen erst einmal vorziehen. Man sieht: ich suche die Nähe erstmal zum Werk, nicht zu den Interpreten ...

    • Offizieller Beitrag

    Und ich halte mir zugute, dass ich neben JD der einzige hier bin, der wirklich ständig und oft über den Tellerrand schaut.


    He... das nehme ich jetzt persönlich.
    Ich glaube, dass meine Sammlung und meine Interessen sehr vielseitig sind.
    Ich mag nur manche Sachen nicht mehr hören (zum Beispiel über-vibrierende Streicher, die unsauber intonieren, wie leider bisweilen beim späten Karajan), aber höre durchaus rechts und links.

    Und trotzdem, oder gerade deshalb, haben Neuerwerbungen bei mir einen ähnlichen Stellenwert wie bei Ulli: ich bekomme neue Blickwinkel auf Dinge, die mir zu vertraut erscheinen. Und das mag ich. Und da können bei mir alte Zöpfe auch mal abgeschnitten werden.

    Was Du sagst: ich habe meine Sammlung und meinen Geschmack gefestigt, schaffe mir nur neues an, um mal reinzuhören, aber die können meine "alten Lieblinge" nie ankratzen.
    Schade.
    Eigentlich können dann die jungen Musiker sich als Taxifahrer oder Call-Center-Mitarbeiterinnen bewerben.

    • Offizieller Beitrag

    Ich weiß nicht, lieber Travinius; warum du neuerdings ständig alles persönlich nimmst und an der Sache vorbeiredest! *hä* Du gibst sinnentstellend wieder und überspitzt unzulässig. Wir alle hier kennen deine Vorlieben und dein Verhältnis zu Neuzugängen und haben kein Problem damit; ich selbst habe durch dich Capucon und Dausgaard zugekauft.

    Was du hier schreibst ...

    Zitat

    Was Du sagst: ich habe meine Sammlung und meinen Geschmack gefestigt, schaffe mir nur neues an, um mal reinzuhören, aber die können meine "alten Lieblinge" nie ankratzen.

    ... ist schlichtweg falsch paraphrasiert, weil das nicht in meinen Postings steht, wenn man den Kontext beachtet. Ich schrieb lediglich davon, dass ich mit meiner Sammlung ganz anders abwäge. Und ich behaupte, dass ich wesentlich mehr Neues kaufe als du, weil ich einfach überhaupt mehr kaufe.

    Und wieder erweckt deine Wortmeldung den Eindruck, als seien nur Ulli und du auf der Höhe der Zeit und neugierig genug. Das ist einfach nicht wahr! Im Gegenteil empfinde ich persönlich deine Haltung gegenüber der Interpretationsgeschichte als absolut unverständlich und fahrlässig; aber ich käme nie auf die Idee, dir das vorzuhalten, weil ich Prinzipien und Welt-Anschauungen schätze. Du dagegen wirst nicht müde, uns deinen Unwillen bezüglich Karajan, Furtwängler und Co. zu bekunden. Das ist ein wenig zuviel des Guten, wie ich finde. Du verletzt dadurch einige User hier, wie ich sicher weiß; und damit meine ich nicht mich.

    • Offizieller Beitrag

    Aber, Yorick, Du machst doch mit Deiner Aussage dasselbe: nur Du und JD schauen über den Tellerrand.
    Die Aussage fand ich sehr persönlich und fühlte mich dadurch angegriffen.

    Und darauf habe ich dann persönlich geantwortet.

    Und: Ulli und ich haben einen sehr unterschiedlichen Geschmack und schauen in sehr verschiedne Richtungen. Ich höre beileibe nicht nur opi und ein "falscher Vorschlag" (ich setze das bewusst in An- und Abführung, weil ich auch dazu eine ganz andere Meinung als Ulli habe) kann mir eine Aufnahme nicht verleiden.

    Ich bin auch kein Missionar: mir ist letztlich egal, wer sich meinetwegen oder aus anderen Gründen neue Aufnahmen kauft.

    Ich bleibe aber bei meiner Aussage, unabhängig von Deiner Antwort: wenn "die heutigen Dirigenten und Musiker" nicht mehr an die Leistungen unserer Vorfahren anknüpfen könnten, verstehe ich nicht, dass sich noch ein einziger Musiker überhaupt die Mühe macht. Wird nett besprochen, aber zum Schluss kaufen wir doch Karajan (Name willkürlich als pars pro toto gewählt).

    • Offizieller Beitrag

    Ich bleibe aber bei meiner Aussage, unabhängig von Deiner Antwort: wenn "die heutigen Dirigenten und Musiker" nicht mehr an die Leistungen unserer Vorfahren anknüpfen könnten, verstehe ich nicht, dass sich noch ein einziger Musiker überhaupt die Mühe macht. Wird nett besprochen, aber zum Schluss kaufen wir doch Karajan (Name willkürlich als pars pro toto gewählt).

    Wer hat denn das geschrieben? Ich ganz sicher nicht ... und ich muss mich wiederholen: seit nun schon Wochen, seit Brahms 1, wird doch hier genau das Gegenteil behauptet, erst die Neueren wie Gardiner verstünden die Partitur und daher könne man alles von früher als Interpretationsgeschichte abtun.

    Beide Extreme sind Unsinn: Nur alte Sachen zu hören, weil früher alles besser war, ist Quatsch; und zu behaupten, nur das Neue sei spannend und gut, genauso. Ich halte meinen Pfad für den Königsweg, ich höre die Klassiker und auch viel Neues. :D

    • Offizieller Beitrag

    Ich finde, das passt hier:

    Zitat von Falstaff

    Ein Sänger/eine Sängerin mit starker Persönlichkeit kann da nicht nur technische, sondern auch altersbedingte vokale Schwächen überdecken. Rysanek, Jones, Silja im ersten, Ludwig, Fischer-Dieskau, de los Angeles im zweiten Fall. Um die wirkliche Leistung beurteilen zu können, brauche ich dann oft die CD, die natürlich nur eine amputierte Version der Realität im Opernbereich für mich ist. Aber hier lenkt mich selbstredend nichts ab.
    Interessant finde ich dann, dass mir gerade bei jüngere Sänger/-innen die Beurteilung während der Aufführung leichter fällt. Vielleicht fehlt mir da häufig das bühnendramatische Talent, das so viel vergessen macht.


    Also mir ging es gerade so, daß ich zwar die Bühnenstandhaftigkeit einer gewissen Frau Christa Ludwig durchaus bewundere, aber andererseits empfinde ich, daß sie ausstrahlt, ihr gehöre die Bühne. Das meine ich jetzt nicht prinzipiell negativ, aber mir fehlt der Reiz des Undenkbaren, des Unvollendeten, des Unvorbereiteten, des Entblößens (wird auch mit ss rot unterschlängelt, also: sei's drum: ß ist individüller und schöner), des Scheuen, Schüchternen, Unerfahrenen. Sicher: die Bühne ist ihr zuhause, sie ist da sicher, schritt- und trittfest. Gerade das aber stört und langweilt mich.

    Wenn ich vergleiche mit z.B. Bühnenneuheiten wie Kangmin Justin Kim, der einfach unbedarft an das Thema herangeht, dabei zwar umsichtig, aber unerfahren ist, manchmal tolpatschig (dies aber nicht bemerkt und dabei eine gewisse Selbstsicherheit ausstrahlt; das meine ich mit: Entblößen), ist mir einfach wohler. Ich verstehe das als selbstverstandener Perfektionist selber nicht so ganz ...

    Auf mich wirken die Neuen irgendwie „ehrlicher“, nicht so angelernt künstlich - aber - wie eben gesagt - auch nicht so perfekt.

  • aber mir fehlt der Reiz des Undenkbaren, des Unvollendeten, des Unvorbereiteten, des Entblößens (wird auch mit ss rot unterschlängelt, also: sei's drum: ß ist individüller und schöner), des Scheuen, Schüchternen, Unerfahrenen. Sicher: die Bühne ist ihr zuhause, sie ist da sicher, schritt- und trittfest. Gerade das aber stört und langweilt mich.

    So wie du es beschreibst, würde ich es sofort unterschreiben. Das hat einen unglaublichen Reiz, solange da nicht irgendein Depp auf der Bühne herumstolpert, der eigentlich vom Handwerklichen her gesehen, da gar nicht hingehört. Aber wenn jemand wirklich kann, was er vorgibt, aber trotzdem noch die Bühne als neuen Erfahrungsraum auskundschaftet - wunderbar.
    Natürlich fehlt das bei den alten Hasen. Und trotzdem, und da sind wir sicherlich nicht auf einer Länge, liebe ich es, wenn eine Person den Raum betritt, die sofort alles füllt und einen schlichtweg mit ihrer Persönlichkeit überschwemmt. Ich habe einmal den ollen Sinatra erlebt. Da war nix mehr spontan, dazu falsche Töne, falsche Haare, falsche Zähne, falsche Hüften, (leicht) betrunken, Text vergessend usw. und trotzdem das Konzerterlebnis meines Lebens (neben Horowitz). Weil er einfach alles vergessend machte, sobald er den Mund aufmachte, nein, sobald er die Bühne betrat.
    Da liebe ich wohl beide Richtungen, nee, vielleicht nur die eine. Persönlichkeit muss da sein. Egal, fast egal was die Person dann auf der Bühne anstellt.

    Liebe Grüße
    Thies :wink:

    • Offizieller Beitrag

    Und trotzdem, und da sind wir sicherlich nicht auf einer Länge, liebe ich es, wenn eine Person den Raum betritt, die sofort alles füllt und einen schlichtweg mit ihrer Persönlichkeit überschwemmt. Ich habe einmal den ollen Sinatra erlebt. Da war nix mehr spontan, dazu falsche Töne, falsche Haare, falsche Zähne, falsche Hüften, (leicht) betrunken, Text vergessend usw. und trotzdem das Konzerterlebnis meines Lebens (neben Horowitz). Weil er einfach alles vergessend machte, sobald er den Mund aufmachte, nein, sobald er die Bühne betrat.
    Da liebe ich wohl beide Richtungen, nee, vielleicht nur die eine. Persönlichkeit muss da sein. Egal, fast egal was die Person dann auf der Bühne anstellt.


    Irrtum, das sind wir; nur sicherlich bei unterschiedlichen Personen. Bei Sinatra wäre ich allerdings bei Dir. Nur: sind mir die Interpreten selbst - mit Ausnahmen - selten wichtiger als das Werk.

    • Offizieller Beitrag

    Bei Sinatra beispielsweise - sorry für das ot - sind Werk und Interpret sowas wie Personalunion. Schon immer. Bei der klassischen Musik mag ich es aber nicht, wenn sich der Interpret bewußt zum eigentlichen Werk macht.
    :thumbdown:

    Denn das ist er nicht; er ist nur ein „Vehikel“ - das natürlich nicht mangelhaft sein darf und neben dem Werk auch überaus zu schätzen ist. Die Musik funktioniert ohne die Interpreten nicht; mir ist das schon bewußt - aber umgekehrt sind die Interpreten ohne die Musik eben auch nichts. Das ist ein Geben und Nehmen, wenn man es so will; aber: die Musik war zuerst da.

  • Irgendwie dämmert in meinem Hinterstübchen darüber ein Zitat von Verdi oder Wagner oder wem auch immer, dass das Wollen die eine Seite wäre, aber das ohne das Vollbringen sie (die Komponisten) gar nichts wären. Schade, dass ich es nicht mehr zusammenbringe. Das hätte ich jetzt gerne mit großbürgerlicher Attitude hier in den Raum geknallt. :D Aber das soll wohl so sein und zeigt einfach, dass man gerade bei diesem Punkt völlig anderer Meinung sein kann. Und wie gut auch. So haben wir die Interpreten, die sich austoben und gleichzeitig auch die Werkfanatiker, die uns nur das Werk eben präsentieren (wie auch immer das gehen soll). Was für eine Bandbreite von Genüssen für uns Konsumenten. :)

    Liebe Grüße
    Thies :wink:

  • Meine Interessen hinsichtlich klassischer Musik sind vielfältig, wie ihr wisst: Ich höre alles, von der Alten (Frühen) Musik (mittelalterliche Musik: Gregorianik, flämische Polyphonie, Reformation, Gegenreformation, Renaissance) über den Barock (Schwerpunkt geistliche Musik), die Frühklassik, Klassik, Romantik, Spätromantik bis zur Moderne; natürlich mit diversen Schwerpunkten. Entsprechend vielfältig sind auch meine Neuerwerbungen, die vor allem meine Lieblingsthemen beackern. So kaufe ich in der Regel alle wichtigen Neueinspielungen von Schütz, Wagner, Bruckner; aber auch andere Sachen zu Schubert oder Beethoven, die ich hier oder anderswo empfohlen bekommen habe. Da aber mein ganzes Kauf- und Hörvolumen auf enorm breiter Basis steht und ich offensichtlich mehr Geld und Zeit investieren kann als die meisten hier, verteilen sich meine Käufe insgesamt auch breiter, so dass die vielen Neuaufnahmen zwischen den historischeren und den neu aufgelegten oder remasterten nicht so herausstechen.

    Ich nehme ja mal an, dass meine Interessen bezüglich klassischer Musik noch breiter gestreut sind als bei Dir(?) - und dass ich weniger Zeit habe, also halte ich es wie Ulli und interessiere mich nicht für die Geschichte der Musikinterpretation, es sei denn, sie ist ganz nahe beim Komponisten, z.B. der Komponist dirigiert selbst, dann brauche ich das danach nicht.

    Außerdem bewirkt dieses Breiteninteresse, dass ich dasselbe Werk selten öfter als 2x pro Jahr höre, somit brauche ich auch keine 2.-Aufnahme.

    • Offizieller Beitrag

    Ich nehme ja mal an, dass meine Interessen bezüglich klassischer Musik noch breiter gestreut sind als bei Dir(?) - und dass ich weniger Zeit habe

    Ich weiß weder das eine noch das andere, woher auch. Auch wenn ich schon sehr nachdenken muss, was angesichts meiner Aufzählung noch fehlen könnte; dass du noch breiter aufgestellt wärest; da musst du schonmal Butter bei die Fische ... und über Zeit werde ich nicht streiten, das ist jedem seine eigene Sache ...

    Außerdem bewirkt dieses Breiteninteresse, dass ich dasselbe Werk selten öfter als 2x pro Jahr höre, somit brauche ich auch keine 2.-Aufnahme.

    Hm ... das, lieber Freund, ließe sich nun leicht argumentativ aushebeln; aber warum, wenn es dir gut damit geht, ist doch alles in Butter ...

    P.S. Zweimal Butter würde ich im Aufsatz anstreichen ...

  • Ich habe doch mal gelesen, dass Du mit italienischer oder französischer Oper des 19. Jahrhunderts nicht so warm wirst? Ebenso Operette/Musical, resp. Gershwin im Allgemeinen. Also vermute ich in diesen Bereichen größere Lücken bei Dir. Und über Neue Musik kann ich mich nicht erinnern, dass Du da viel dazu geschrieben hättest - also z.B. Varèse, Webern, Messiaen, Cage, Xenakis, Ligeti, Nono, Berio, Boulez, Feldman, Stockhausen, Lachenmann, Sciarrino, ...

    Die Musik vor 1600 ist trotz mangelhafter Überlieferung auch ziemlich viel Zeugs.

    Das mit der Zeit: Ich komme vielleicht auf 1 Stunde pro Tag im Schnitt - eher weniger?