Bemerkungen zum Werk

  • Johannes Tinctoris ist heute v.a. als Musiktheoretiker bekannt und als solcher nimmt er eine herausragende Stellung in der Musikgeschichte ein.

    Thomas Röder beschreibt das theoretische Werk von Tinctoris im Lexikon der Musik der Renaissance* als 'Kodifizierung der kompositorischen Errungenschaften seiner Zeit'.
    Er richte seine musiktheoretischen Arbeiten an den Erfordernissen seiner Zeit aus und konkretisiere Musikgeschichte mittels einer an Personen, Generationen, Nationen festgemachten Folge.

    Wichtige Stichpunkte dieses Textes sind Tinctoris'

    - kritische Haltung zu Theorien der Antike und ihrer Rezeption
    - Verwerfung der Ideen zur Sphärenharmonie
    - Erkennen von Überlieferungsbrüchen der Tonartenlehre im Mittelalter
    - Enthaltung bei überkommenen Versuche zur Tonartencharakteristik
    - Skepsis gegenüber jeder konkreten Aussage zur antiken Musikübung
    - Einnahme eines explizit 'aristoltelischen' Standpunkts.

    Thomas Röder beschließt seinen Artikel mit den Worten:

    Zitat

    Hinter dem umfangreichen und bedeutendem theoretischen Werk ist der Komponist Tinctoris gleichsam verschwunden, wenn gleich zahlreiche Beispiele aus seiner Feder in die Schriften, vor allem in den Kontrapunkttraktat, eingingen. Tinctoris betätigte sich in allen maßgeblichen Gattungen. Von seinen vier erhaltenen Messen ist eine viersstimmige über den bekannten l'homme armé-Tenor hervorzuheben sowie eine dreistimmige in tiefer Schlüsselung ("extra manum"), deren Teile nicht durch einen cantus firmus, sondern durch identische Anfänge miteinander verbunden sind. [*Lexikon ... Bd 2. S. 538-540]


    Bernhard Morbach hat in seiner bekannten Einführung Die Musikwelt der Renaissance** ein ganzes Kapitel unter dem Titel Kontrapunkt und Seelenfreude - Johannes Tinctoris und die Neue Musik diesem theoretischen Werk gewidmet. Er zitiert da aus dem Traktat Complexus viginti effectum nobilis artis musicae (um 1473) die Wirkungen von Musik nach Tinctoris:

    -- ecclesia triumphans (Kirche im Himmel):
    01. Gott erfreuen
    02. Den Lobpreis Gottes verschönern
    03. Die Freuden der Seligen mehren
    04 . Die kämpfende Kirche der triumphierenden ähnlich machen

    -- ecclesia militans (Kirche auf Erden)
    05. Bereiten zum Empfang göttlicher Segnung
    06. Die Herzen zur Frömmigkeit reizen
    07. Trübsinn vertreiben
    08. Verstockheit des Herzens lösen
    09. Den Teufel austreiben
    10. In >religiöse< Begeisterung versetzen
    11. Das Auge vom Irdischen zum Höheren lenken

    -- körperlich-seelische Wirkungen: Ethos-Lehre
    12. Von böser Absicht zurückrufen
    13. Menschen fröhlich machen
    14. Kranke heilen
    15. Mühsal lindern
    16. Die Gemüter zum Kampf anspornen
    17. Zur Liebe reizen
    18. Die Feststimmunf beim Gastmahl steigern
    19. Kundige Musiker zu Ruhm bringen
    -- abschließende Rückwendung zur musica caelestis
    20. Seelen selig machen

    zitiert nach Morbach, S. 55


    Seinen Zeitgenossen galt Tinctoris jedoch schon in jungen Jahren als hervorragender Komponist, der zusammen mit den berühmtesten Musikern dieser Zeit von Loyset Compère in seinem Sängergebet, der Marienmotette Omnium bonorum Plena, erwähnt wird.

    [...]
    Secunda Pars

    Omnium bonorum plena
    peccatorum medicina
    cuius proprium orare
    est atque preces fundare,

    Pro miseris peccantibus
    a Deo recedentibus
    funde preces ad filium
    pro salute canentium.

    Et primo Guillaume Dufay
    pro que me mater exaudi
    luna totius musicae
    atque cantorum lumine.

    Pro Jo(hannem) Dussart, Busnoys
    Caron, Magistris cantilenarum
    Georget de Brelles, Tinctoris,
    cimbalis tui honoris,

    ac Okeghem, Des Pres, Corbet
    Hemart, Faugues et Molinet,
    atque Regis omnibusque
    canentibus simul et me

    Loyset Compère orante
    pro magistris puramente,
    quorum memor Virgo vale
    semper Gabrielis Ave.
    Amen.

    zitiert nach dem Booklet der CD Loyset Compère, Orlando Consort, rec. 1993


    lg vom eifelplatz, Chris.

    ___________________

    Literatur und Nachweise

    *Lexikon der Musik der Renaissance. Hrsg. von Elisabeth Schmierer. Bd 1.2. - Laaber: Laaber Verl. 2012.
    Hier: Tiinctoris, Johannes - Bd 2, S. 537 - 540.

    **Morbach, Bernhard: Die Musikwelt der Renaissance. - Kassel u.a.: Bärenreiter Verl. 2006.
    Hier: Kap. 3, Kontrapunkt und Seelenfreude - Johannes Tinctoris und die Neue Musik, S. 44 - 58.

    Zu biographischen Daten:

    de.Wikipedia
    en. Wikipedia
    Deutsche Biographie
    VIAF
    [zur VIAF]

    Zum Werk:

    Complete Theoretical Works
    Theoretical Works

    DIAMM Tinctoris
    Medieval.org. Discographie
    Renaissance Masses
    CMM 18
    CMM 85

    • Offizieller Beitrag

    Nun erklärt mir doch aber bitte, liebe Spezialisten für Alte Musik; warum man sich mit Johannes Tinctoris beschäftigen soll? Was zeichnet ihn aus, macht ihn besonders, hebt ihn heraus; dass sich die mühevolle musikarchivalische Arbeit lohnt?

    "Wenn man sich nur das Urteilen abgewöhnen könnte, dieses dilettantische Verfälschen der Dinge! Wir wollen immer verstanden werden und sind selber unerbittlich verständnislos." (Verdi bei Franz Werfel)

  • Nun, er gehört schon zu den Besten seiner Generation, auch wenn sein Name und Oeuvre nicht sehr bekannt sind. Vergiß nicht: zu seiner Zeit lebten Dufay/Binchois/Ockeghem (Vatergeneration), Busnois/Desprez/Agricola/Isaac/de La Rue/Obrecht, Taverner/Willaert/Gombert/Morales (Kindergeneration). Seine Schriften waren sehr fundamental und umfassend angelegt, seine Musik gehörte zum Kunstvollsten seiner Generation.

    Gestern hörte ich seine Lamentationes - was für eine wundervolle Arbeit... :love:

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

    • Offizieller Beitrag

    Wahnsinn, was für große Namen und so viele!!! :jubel::jubel::jubel::love::love::love:

    P.S. Die haben aber noch nicht alle eigene Threads.

    "Wenn man sich nur das Urteilen abgewöhnen könnte, dieses dilettantische Verfälschen der Dinge! Wir wollen immer verstanden werden und sind selber unerbittlich verständnislos." (Verdi bei Franz Werfel)