Kann man für eine Interpretation reif genug sein?

  • Ich komme aufgrund dieses Postings auf das Thema:

    Ich halte solche Wertungen für unzulässig und vor allem ungerecht: dem Kunden gegenüber und auch der Künstlerin. Auch ohne selbst Klavier zu spielen und mit nur 30 Jahren Hörerfahrung weiß ich, dass gerade das NT der Klaviermusik unmöglich in so jungen Jahren durchdrungen werden kann; wo selbst reife erfahrene Pianisten kaum einen kompletten Zyklus in gleichbleibender Qualität abliefern können. Ich bin sicher, dass einzelne Donaten auch jetzt schon gut gelingen dürften; nie und nimmer aber die Spannkraft für alle 32 ausreicht.


    Ich bin kein Musiker und gehöre gewiß nicht zu den großen Kennern der 32 Klaviersonaten Beethovens, aber ich frage mich allmählich, ob solche Einstellungen überhaupt jemals Sinn ergeben haben. Immerhin kommt diese Meinung nicht nur von Hörern, sondern auch von ausführenden Musikern, und ich bin der Letzte, der das Gewicht solcher Künstler nicht berücksichtigen möchte. Und trotzdem frage ich mich: wieso ist das von Belang? Warum kann eine 20jährige nicht einen Zyklus einspielen oder Konzerte bestreiten, wenn sie einen Punkt erreicht hat, an dem sie das Auswendiglernen und Verinnerlichen - das Beschäftigen - bereits überschritten hat? Ich plädiere nicht dafür, gleich alles als großartig und toll zu bewerten, aber wenn Kinder mit unter zehn Jahren bereits Konzerte bestreiten können mit zum Teil nicht gerade leichtgewichtigen Werken, dann kann man auch mit 20 Beethoven spielen.

    Die Frage ist ja: wie reif muß man sein? Nicht nur für Beethoven, sondern generell? Wann wird man ernst genommen, wenn man komplexe Werke der Violin- oder Klavierliteratur aufführt, die ja auch "geistige Durchdringung erfordern"? Was bedeutet diese Durchdringung eigentlich? Was erreicht man denn erst im Alter von - sagen wir mal - 30-40 Jahren, was vorher nicht klappen kann? (Jedenfalls kommt mir so ein Tenor öfters in den Sinn, wenn ich verschiedene Meinungen über Interpretationen lese.)

    Ich will nicht speziell auf Kinder eingehen, sondern auf junge Erwachsene. Ich habe generell nicht den Eindruck, daß irgendein Künstler in dieser Welt ernsthaft versucht, eine Interpretation speziell solcher Gipfelwerke auf die leichter Schulter nimmt und nur einfach drauflosspielt, denn er weiß genau, daß er danach bemessen wird. Wenn also z.B. eine Melodie Zhao den kompletten Sonatenzyklus Beethovens aufnimmt, dann ist das mit ihren Lehrern abgesprochen, mit anderen Kollegen, mit dem Produzenten der Aufnahme; sie muß sich eingehend beschäftigt haben auf verschiedenste Weise, muß geprobt haben, muß die Werke auch bereits in Konzerten gespielt haben, sich von Anderen kritisiert haben lassen usw. Sie fordert den Mut von sich, denn sie später auch haben muß. Warum also warten?

    Niemand nimmt Beethovens Sonaten auf die leichte Schulter! Dafür gibt es zuviele Konzerte, zuviele Aufnahmen, zuviel Literatur darüber, zuviel Erfahrungen, Berichte, Meinungen, Essays. Mich würde interessieren, was es grundsätzlich verbieten soll, daß sich eine Künstlerin so früh wie möglich mit den großen Meisterwerken der Klassischen Musik beschäftigt? Irgendwann muß man nämlich damit anfangen. Mit 40 beginnt heutzutage keine Weltkarriere mehr.

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

    • Offizieller Beitrag

    Prinzipiell hast du natürlich Recht, die Welt ist in allen Bereichen schnelllebiger geworden, auch bei den Instrumentalsolisten erreicht man Reifegrade in wesentlich höherer Geschwindigkeit als früher; weil die Jugend ohnehin schneller erwachsen wird biologisch und sich der Unterricht weiterentwickelt hat, die Förderung spezialisiert und die Auslese durch Wettbewerbe und Markt extrem selektiert und siebt. Ich denke also auch, dass ein Pianist oder eine Pianistin heutzutage eher fertig ist als früher. ABER und das halte ich für ebenso natürlich, das ändert nichts daran, dass genauso wie Menschen älter und weiser werden auch Künstler mit dem Alter und der Erfahrung mehr dazugewinnen, als was sie womöglich an Technik im Laufe der Jahre wieder verlieren.

    Ich habe einmal in Jena in der Universitätsbibliothek einen ganz jungen Menschen sich mit Beethovens letzten drei Klaviersonaten abmühen hören, neben technischen Fehlgriffen war er diesen schlicht im Ansatz nicht gewachsen. Unverantwortlich von den Initiatoren, so etwas auf das Programm zu setzen. Und ich bezweifle nicht, dass z.B. die junge Schweizerchinesin technisch perfekt eine Interpretation vorzulegen in der Lage ist, die der Masse der gängigen Einspielungen der letzten Jahrzehnte vom Niveau her gleichkommt. Darum geht es ja aber nicht bei so wichtigen Kompositionen und die Mehrfacheinspielungen bestimmter Meister ihres Fachs beweisen ja, wie wichtig die lebenslange Auseinandersetzung ist und wie fruchtbar jedesmal wieder der Neuansatz, man höre Brendel, Kempff, Buchbinder oder Gulda.

    Insofern ist die Diskussion um den Terminus Reife natürlich müßig, weil der sich nicht eindeutig inhaltlich bestimmen lässt. Es hülfe ohnehin wieder nur der Blindtest: Zwei Interpretationen eingelegt und dann geurteilt, wer ist Melodie Zhao und wer Emil Gilels. Und wenn da das Mädel gewönne, hätte man einmal mehr einen Beleg dafür, dass alles Gerede um Reife und Genialität idealistische Projektionen sind. Seit ich bekennende Karajanhasser im Blindtest hereingelegt habe und sie im Vergleich verschiedener Interpretationen von Beethovens Sinfonien eben nicht Järvi, Thielemann, Klemperer, Wand, Masur oder Cluytens wählten, sondern ausgerechnet eine Aufnahme ihres Erzfeinds kürten, bin ich ohnehin skeptisch gegenüber allen Behauptungen wie der von mir getroffenen, die zu deiner Anregung für diesen Thread hier wurde.

    "Wenn man sich nur das Urteilen abgewöhnen könnte, dieses dilettantische Verfälschen der Dinge! Wir wollen immer verstanden werden und sind selber unerbittlich verständnislos." (Verdi bei Franz Werfel)

  • ABER und das halte ich für ebenso natürlich, das ändert nichts daran, dass genauso wie Menschen älter und weiser werden auch Künstler mit dem Alter und der Erfahrung mehr dazugewinnen, als was sie womöglich an Technik im Laufe der Jahre wieder verlieren.

    Richtig. Ich gehe ohnehin davon aus, daß z.B. Beethovens Klaviersonaten eine Beschäftigung fürs Leben sind. Deshalb halte ich ja die Praxis des Wartens, um die richtige Reife zu bekommen, für unsinnig.

    Ich habe einmal in Jena in der Universitätsbibliothek einen ganz jungen Menschen sich mit Beethovens letzten drei Klaviersonaten abmühen hören, neben technischen Fehlgriffen war er diesen schlicht im Ansatz nicht gewachsen. Unverantwortlich von den Initiatoren, so etwas auf das Programm zu setzen.

    Die technische Versiertheit setze ich voraus - wenn es da noch hapert, dauert es halt wirklich länger. Außerdem glaube ich auch nicht, daß jeder ausgebildete Musiker fähig ist, sie zu bewältigen; man braucht Hingabe und sehr viel Fleiß, um schwere Stücke spielen zu können.

    Es hülfe ohnehin wieder nur der Blindtest:

    Es rückt jedenfalls den Kopf wieder an die richtige Stelle - oder vielmehr: die Ohren.

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    • Offizieller Beitrag

    Dass wir mal einer Meinung sind ... :love:

    Ich gehe also mal davon aus, dass du den Zyklus von Melodie Zhao hast oder kennst? Oder war sie nur das Fallbeispiel? Man kann sie nämlich über Spotify hören, aber der Download ist unverschämt teuer.

    "Wenn man sich nur das Urteilen abgewöhnen könnte, dieses dilettantische Verfälschen der Dinge! Wir wollen immer verstanden werden und sind selber unerbittlich verständnislos." (Verdi bei Franz Werfel)

  • Prinzipiell hast du natürlich Recht, die Welt ist in allen Bereichen schnelllebiger geworden, auch bei den Instrumentalsolisten erreicht man Reifegrade in wesentlich höherer Geschwindigkeit als früher; weil die Jugend ohnehin schneller erwachsen wird biologisch und sich der Unterricht weiterentwickelt hat, die Förderung spezialisiert und die Auslese durch Wettbewerbe und Markt extrem selektiert und siebt.

    Ich weiß nicht, ob das die "Reife" erklärt - natürlich ist da ein Unterschied zu früher, aber es ist nicht unbedingt an die Technik gekoppelt, sondern an der Einstellung zu bestimmten Dingen. Kunstauffassung, Weltanschauung, Bildung, Wissen und natürlich auch Erfahrungen - nicht nur an der Musik, sondern auch am Leben. Eine zielgerichtete musikalische Ausbildung hilft dabei ungemein, doch ist das für mich immer noch Teil des Handwerks. Interpretation ist aber mehr als das: es erfordert Konzepte, Ideen, Inspirationen, die schöpferischer Natur sind. Die Noten wollen in einem fortlaufenden Duktusgespielt werden, denn sonst genüg heutzutage tatsächlich ein Computerprogramm, um die Werke abzuspielen.

    Ich gebe durchaus zu, daß ich nicht weiß, wie wichtig die Künstler heutzutage diese Art von Reife halten; von früheren wie z.B. Horowitz weiß man, daß er sehr breit gebildet war. Und die Frage, ob jemand mit 20 Jahren reif genug ist in dieser Hinsicht, ist durchaus berechtigt, aber - wie Yorick schon schrieb - man muß es konkret nachprüfen. Ein Kit Armstrong war mit 16 Jahren so weit gewesen, daß er alles hätte machen können - doch Brendel hat ihm dennoch zu Geduld geraten. Aber mit 20 war Armstrong ganz gewiß soweit, Großes zu vollbringen.

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