Das Buxheimer Orgelbuch (1460/1470)

  • In der Bayerischen Staatsbibliothek in München befindet sich unter der Signatur [BSB Mus.ms. 3725] ein Manuskript, welches im Jahre 1883 aus dem Bestand des Klosters Buxheim (bei Memmingen/Oberschwaben) erworben wurde. Es handelt sich um ein Codex aus Papier mit den Maßen 30 x 21 cm, der insgesamt 256 Stücke beinhaltet. Man vermutet, daß die Handschrift in den 1460er Jahren in der Schweiz entstand, von einem einzigen erfahrenen Schreiber geschrieben. Sie ist in einem ungewöhnlich neuwertigen Zustand, was darauf hindeutet, daß sie als Abschrift zur Archivierung gedacht war, aber nicht als täglich verwendetes Gebrauchsexemplar; vermutlich wurde sie höchstens für Lehr- oder Repräsentationszwecke benötigt.

    Es ist eine der bedeutendsten Sammlungen mit Musik für Tasteninstrumente aus dem Mittelalter. In ihr finden sich wichtige Hinweise auf Spielweisen, Techniken und Harmonik speziell für Orgel sowie ein Überblick über Repertoire der damaligen Zeit. Der Einblick in die "theoretische Praxis" von Organisten um die Mitte des 15. Jahrhunderts ist einmalig und zeigt deutlich, daß hier bereits in einer langen Tradition an der Orgel musiziert wurde.

    Die Stücke sind zumeist Intabulierungen von weltlichen Chansons, Tanzsätzen und Liedern; außerdem enthält es gut fünfzig geistliche Stücke sowie dreißig Präludien. Die Anzahl der Stimmen pendelt zwischen 2-4. Sie alle sind in der älteren deutschen Orgeltabulatur notiert - also die Oberstimme in Mensuralnotation, die anderen darunter als Buchstaben mit Notenwerten. Die Stücke sind anonym überliefert, aber die Komponisten der Vorlagen sind zum Teil bekannt. Gesetzt wurden übrigens die Cantus- und Tenor-Stimmen der Vorlagen - die Contratenor-Stimme wurde stets neu komponiert.

    Dazu kommt noch das Fundamentum Organisandi von Conrad Paumann (c1410-1473). Es handelt sich um ein Lehrbuch, welches alle damaligen Möglichkeiten an Verzierungen, Improvisation und Kadenzierungen beispielhaft präsentiert. Es ist neben dem Buxheimer Orgelbuch noch in drei weiteren Schriften enthalten (darunter im Lochamer-Liederbuch). Interessant ist, daß es neben der früheren zweistimmigen Variante auch eine mit drei Stimmen gibt, die die Neuerungen der Burgundischen Schule um Gilles Binchois Rechnung trägt.

    Grundsätzlich nimmt man an, daß der Bestand der Stücke im Musikerzirkel um Conrad Paumann in Nürnberg gesammelt wurde, und zwar in der Zeit, bevor der blinde Meister 1452 nach München ging. Es ist gut möglich, daß eine Manuskript-Sammlung aus Nürnberg aufgrund wirtschaftlicher Verbindungen in den süddeutschen Raum gelangte, wovon der schweizerische Codex letztendlich kopiert worden sein könnte. Es gibt speziell in den Überschriften der deutschsprachigen Stücke Schreibvarianten, die eher dem Dialekt südlich des Bodensees zuzuordnen sind als dem fränkischen Nürnberg, was zeigt, daß sie angepaßt wurden, als man sie kopierte.

    Der Codex bekam den heutigen Namen erst im 19. Jahrhundert und wurde u.a. aufgrund Paumanns Lehrbuch allein der Orgel zugeordnet; inzwischen aber hat sich in der Forschung die Meinung durchgesetzt, daß viele Stücke gar nicht ausschließlich für jenes Instrument gedacht waren. Die weltlichen Chansons wären wohl eher auf Cembalo, Clavichord oder einem Portativ gespielt worden, da diese Instrumente außerhalb der Kirche dominierten. Dennoch bleiben genug Stücke übrig, die in einem liturgischen Zusammenhang auf der Orgel erklangen.


    Inhalt:

    • Ach guter gessel was zichstu (zeihst du) mich
    • Adyen matres belle (Adieu mes tres belles amours) I [Gilles Binchois]
    • Adyen matres belle II [Gilles Binchois]
    • Adyen matres belle III [Gilles Binchois]
    • Ad primum morsum
    • Aliud mi ut re ut
    • Aliud Inicium Jeloemors
    • Allegalea
    • Amen
    • Anna basanna quarta (Une fois avant que mourir)
    • Anna basanna tertia (Anna basanna)
    • Anna basanna tertia
    • Anna basanna
    • Arrogamer (Arroganyer)
    • Ascendus simplex... (5 Stücke)
    • Aue regina [Walter Frye]
    • Ave regina
    • Efs ist gewesen schertz
    • Begib mich nit myn höchter hort, vicht
    • Bekenne myn klag die mir an lyt
    • Sequitur Benedicite
    • Benedicite I
    • Benedicite (aliud) I
    • Benedicite (aliud) II
    • Benedicite II
    • Biss wolgemut trüt
    • Bonus Tactus [Conrad Paumann]
    • Boumgartner [J.]
    • Bystu die rechte (Modo como)
    • Christ ist erstanden
    • Christus resurrexit
    • Colinetto quartum notraum [Collinet de Lannoy]
    • Colinetto tertium notraum [Collinet de Lannoy]
    • Con lacrime
    • Creature
    • Christus surrexit
    • Christus surrexit mala nostra texit Et quos dilexit Hos ad celos vexit
    • Con lacrime, m C. C. [Johannes Ciconia]
    • Dasselbe Lied zweistimmig bearbeitet
    • Da madame
    • Der Dickel Mit Siner Huowerin
    • Des Klaffers Nyd Tüt Mich Myden
    • Decendi Inortum micum
    • De longe süx
    • Des meyen zit die
    • Des meyen zit die för da her
    • Der Füterer [Boumgartner]
    • Der einen liben bulen hatt
    • Der Sumer
    • Der Winter Will Hin Wichen der Was Mir Huwer Also Lang
    • Die Ich Erwelt Und Mir Gewelt
    • Die süß nachtigall (XVIe)
    • Die vaßnacht bringt trurig Zit
    • Die wie lang
    • Dies est Leticie In ortu regali
    • E schlaue [Arnold de Lantins]
    • Ein buer gein holtze [Jacobus Viletti]
    • Ein fröuwlin edel von natuer
    • Ein gut selig jar wünsch ich dir
    • Einiger trost
    • Ellend
    • Ellend and Jamer
    • Ellend is gemeyn
    • Ellend ich bin Hin ist myn trost
    • Es fur ein Buer int holtze I
    • Es fur ein Buer int holtze II
    • Echt bgirlich
    • Entrepris [Johannes Franchois]
    • Fates moy
    • Fortune
    • Franckurgenti (Franc cuer gentil) [Guillaume Dufay]
    • Frow myn willen nym ungut
    • Füren so min hertz das brindt
    • Gantz itel truw
    • Gaudeamus
    • Gedencken mir vil senen bringt
    • Gedenck daran du werdes ein
    • Ge loy mors (Je loe amours) I [Gilles Binchois]
    • Ge loy mors (Je loe amours) II [Gilles Binchois]
    • Geytes
    • Gignit
    • Gloria de Sancta Maria Vergine (Et in terra pax hominibus de S. maria)
    • Gragandolor
    • Hertz mut vnd all myn synn
    • Ich beger mit mer [Conrad Paumann]
    • Ich bin by Ir Sie weyßt nit darumb I
    • Ich bin by Ir Sie weyßt nit darumb II
    • Ich bin by Ir
    • Ich lafs nit ab
    • Ich sah ein bild in blawer weyt
    • Ich sach ein bild
    • Incipit Fundamentum M.c.p. C. (Magistri Conradi Paumann Contrapuncti) [Conrad Paumann]
    • Incipit Fundamentum M.c.p. C. [Conrad Paumann]
    • Inicium Jeloemors (cf. 16)
    • In wunnigklichem schertzen
    • J'ay pris amours
    • Je loy mors M.C.C.b in cytaris vel etiam in organis 3 vocum (Gelemors) [Gilles Binchois]
    • Jhesu bone
    • Johann Tonroutt
    • Josophanie salve radix (Le souvenir)
    • Kem mir ein strost
    • Ker Uber Her Zu Mir Ker Her
    • Kyrieleyson de Sancta Maria Virgine
    • Kyrieleyson pascale
    • Kyrie Angelicum (Kyrie eleison Angelicum)
    • Kyrie eleison de apostolis I
    • Kyrie eleison de apostolis II
    • Lardant desier (L'Ardant désire)
    • Leucht leucht wuniglicher sunnen zin
    • Le souenir (Le Souvenir de vous me tue) [Robert Morton]
    • Leu serviteur I
    • Leu serviteur II
    • Lieb ist aller welt ist meinsterinne
    • Lieblich Vernuwet
    • Longus tenor
    • Longus tenor quartum notraum
    • Luffile I
    • Luffile II
    • Magnificat octavi toni
    • Magnificat 8 toni I
    • Magnificat I toni cum differencia
    • Magnificat 8 toni II
    • Maria tusolacium (Amen ultimo cantamus) [Paumgartner]
    • Mille bon Jores (Mille bonjours) [Guillaume Dufay]
    • Min fröud stet ungemessen
    • Min hertz das hatt lange
    • Min hertz das hätt sich ser gefröwet [Paumgartner]
    • Min liebste zart
    • Mi ut re ut e c d c (Venise)
    • My ut re ut E c d c
    • Min freud mocht sich wol meren I
    • Min freud mocht sich wol meren II
    • Min Hertz In Hohen fröuden I [G. de Putenheim]
    • Min Hertz In Hohen fröuden II [G. de Putenheim]
    • Min Lieby Zart
    • Min synn die sind mir trübt
    • Min traut geselle
    • Mir ist zerstört
    • Mit ganzem Willen etc. [Paumgartner]
    • Möcht ich din begern
    • Möcht ich din begern (Iste tenor adhuc semen sed in alio coro ec)
    • Mocht mich gedenchen bringen Da hin
    • Modo comor
    • Mombin imparfay
    • Nach diner Lieby stett mir meyn synn
    • O florens rosa, mater Christi
    • O gloriosa domina [Paumgartner]
    • O Intemerata virginitas
    • O regina glie
    • O Rosa Bella I [John Dunstable]
    • O rosa bella II [John Dunstable]
    • O rosa bella III [John Dunstable]
    • Ob Lieb Din Lieb
    • O werder trost
    • Pange lingua gloriosi
    • Patrem omnipotentem
    • Par le regart etc. [Guillaume Dufay]
    • Portugaler
    • Praeambulum Super C I
    • Praeambulum Super C II
    • Praeambulum super d
    • Praeambulum super f
    • Praeambulum Super ff
    • Praeambulum super G
    • 7 preambula
    • Puisque mammor [John Dunstable]
    • Pulcherrima de Virgine
    • Quatuons
    • Qui vult messite (Qui veut mesdire) [Gilles Binchois]
    • Radix
    • Redeuntes in mi
    • Redeuntes super ut et fa
    • Redeuntes in la
    • Redeuntes in ré
    • Repetitio
    • Repetitio hujus
    • Rorate celi de sup. z nubes pl.
    • Salue sancta parens
    • Salve Regina I
    • Salve Regina II
    • Sanctus Angelicum
    • Sansoblier [Bartholäus Bruolo]
    • Se la face ay pale (Se la phase pale)
    • Se la fatze ay pal [Guillaume Dufay]
    • Sebelle anglicum (Sebelle angelicum)
    • Seid ich dich hertzlieb
    • Sequitur aliud fundamentum
    • Sequitur fundamentum Magistri Conradi Paumann Contrapuncti [Conrad Paumann]
    • Sequitur Kyrieleison de Apostolis
    • Sequitur trcium Inicium Jeloemors
    • Sig held und heil
    • Spyra
    • Stüblin (Languir en mille destresse)
    • Stüblin
    • Sub Tuam Protectionem (motet) [John Dunstable]
    • Sub Tuam Protectionem [John Dunstable]
    • Sur toutes
    • Tant apart (Tout a par moy) [Walter Frye]
    • Thun Jors
    • Trinck Und Gib Mir Auch (Trink und gib mir auch) (XVe)
    • Veni creator spiritus, Hymnus
    • Veni virgo
    • Vierhundert Jare
    • Vierhundert Ja
    • Vil lieber Zit Uff Diser Erde I [Johann Gotz]
    • Vil lieber Zit Uff Diser Erde II [Johann Götz]
    • Vil lieber Zit Uff Diser Erde III [Johann Götz]
    • Vil lieber Zit Uff Diser Erde IV [Johann Götz]
    • Vil lieber Zit Uff Diser Erde V [Johann Götz]
    • Virginem mire pulchritudinis
    • W.J.b.d.d.V. In mentem venuint cucumeus
    • Wach uff myn Hort I [Wolkenstein]
    • Wach uff myn Hort II [Wolkenstein]
    • Wann Ich Betracht Die Vasenacht
    • Wafs ich begynn I
    • Wafs ich begynn II
    • Woluff gesell von hymnen
    • Wilhelmus Öegrant
    • Wollhin Lass Vögelin Sorgen I
    • Wollhin Lass Vögelin Sorgen II
    • Wollhin Lass Vögelin Sorgen III
    • Wollhin Lass Vögelin Sorgen IV
    • Wunschlichen schön
    • Zum nuwen Jare sy dirt gesagt

    Links:

    Wikipedia

    HLB

    Digitalisat

    International Music Score Library Project

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

  • Aufnahmen:

    Die umfangreichste Einspielung stammt aus den Jahren 1995/1996:

    Vol. 1 - Transkriptionen

    (P) 1995 Naxos 8.553466 [73:58]

    rec. April 1995 (Berner Münster, Bern/Schweiz)

    [Orgel: Metzler Orgelbau Opus 519 (Dietikon 1982)]

    Disposition: 2 Manuale & Pedal, 14 Register, Stimmung: modifiziert mitteltönig, a' = 440 Hz


    Vol. 2 - Chansons & Tänze

    (P) 1995 Naxos 8.553467 [75:02]

    rec. April 1995 (Emmauskapelle, Hatzfeld/Eder, Hessen)

    [Orgel: Johann Christian Rindt (1706)]

    Disposition: 1 Manual, 7 Register, Stimmung: mitteltönig, a' = 475,8 Hz


    Vol. 3 - Praeambula & Transkriptionen; Incipit Fundamentum

    (P) 1996 Naxos 8.553468 [77:34]

    rec. Mai 1995 (Ackerman Auditorium, Southern Adventist University, Collegedale/Tennessee)

    [Orgel: John Brombaugh Opus 27 (1984)]

    Disposition: 2 Manuale, 13 Register, Stimmung: mitteltönig, c'' = 557 Hz


    Diese drei CDs enthalten insgesamt 91 Stücke aus dem Codex, realisiert auf drei verschiedenen Orgeln, die aufgrund ihrer Dispositionen durchaus für Repertoire des 15. Jahrhunderts geeignet sind. Am Ende von Vol. 3 steht eine komplette Einspielung des Incipit Fundamentum M.c.p.C. (Magistri Conradi Paumann Contrapuncti) (Nr. 189), die in diesem Umfang bis heute einzigartig geblieben ist.

    Mehr wird folgen..

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

  • Guten Abend

    bei mir:

    " Buxheimer Orgelbuch"

    Gespielt von Joseph Kelemen auf der Anonymius-Orgel ca. 1425 der St. Andreas-Kirche zu Soest- Ostönnen und der Ebert-Orgel 1558 der Hofkirche zu Innsbruck.


    Gruß :wink:

    aus der Kurpfalz

    Bernhard

    «Es ist wurscht, ob das jemand versteht, aber es muss gesagt werden» (Samuel Beckett)

  • Vol. 1 - Transkriptionen

    (P) 1995 Naxos 8.553466 [73:58]

    rec. April 1995 (Berner Münster, Bern/Schweiz)

    [Orgel: Metzler Orgelbau Opus 519 (Dietikon 1982)]

    Disposition: 2 Manuale & Pedal, 14 Register, Stimmung: modifiziert mitteltönig, a' = 440 Hz


    Inhalt:

    1. Praeambulum super D
    2. Christ ist erstanden (45)
    3. Christus resurrexit (46)
    4. Boumgartner (110)
    5. Der Sumer (23)
    6. Fortune (124)
    7. Min hertz das hat sich ser gefrowet (25)
    8. Benedicite (68)
    9. Vierhundert Jar uff diser Erde (199)
    10. John Dunstable: O rosa bella (104)
    11. Allassamire
    12. John Dunstable: Puisque mammor (61)
    13. O Intemerata virginitas (225)
    14. Conrad Paumann: Ich beger nit mer (99)
    15. Allegalea (185)
    16. Ma doulce amour (79)
    17. Die suss nachtigall (108)
    18. Salve Regina (72)
    19. Ad te clamamus
    20. Eia ergo
    21. O clemens
    22. O dulcis Maria
    23. O gloriosa domina (201)
    24. Seyd ich dich hertzlieb (249)
    25. Magnificat octavi toni (77)
    26. Pange lingua gloriosi (163)
    27. Kyrie eleison Angelicum (153 - 155)
    28. Sanctus Angelicum (156)
    29. Jacobus Viletti: Ein buer gein holtze (115)
    30. Mit gantzem willem (214)
    31. Maria tu solacium (74)
    32. Pulcherrima de Virgine (228)
    33. Con lacrime (139)
    34. John Dunstable: Sub tuam protectionem (158)
    35. Johann Gotz: Vil lieber Zit (52)
    36. Gloria de Sancta Maria Vergine (151)
    37. Amen (71)

    Auf dieser CD sind Transkriptionen versammelt, die auf vokale Vorlagen basieren. Diese waren liturgische Stücke, lateinische Motetten, italienische Madrigale oder Tänze, die für den Gebrauch auf Orgel (in der Kirche) oder anderen Tasteninstrumenten (außerhalb der Kirche) angefertigt wurden. Grundsätzlich halten sie sich eng an den Originalen, wobei häufig eine der Stimmen - der Contratenor - neu dazukomponiert wurde. Die Anzahl der Stimmen begrenzt sich auf maximal vier. Pedalgebrauch war obligatorisch und nicht mehr so eingeschränkt wie in früheren Zeiten.

    Die Stücke haben einerseits Lehrcharakter, zeigen andererseits auch den Stand kompositorischen Denkens im 15. Jahrhundert: man könnte sagen, daß die Instrumentalmusik noch sehr nah an den vokalen Vorbildern "klebte", doch sicherlich verzerrt sich das Bild auch, weil nur besondere Stücke aufgeschrieben wurden, die bestimmte Merkmale zum Spiel enthielten. Aber sie zeigte nicht die andere Seite, die natürlich viel umfangreicher war: das Improvisieren. Man darf durchaus annehmen, daß die Organisten sich frei der Vorlagen bedienten und sie auseinandernahmen, so weit das möglich war. Gewisse Grenzen wurden nie überschritten, aber allein der momentane liturgische Ablauf machte eine Flexibilität im Spiel notwendig.

    Somit zeigt sich auch etwas Anderes: ein Komponist im eigentlichen Sinne gab es in der Instrumentalmusik um 1450 praktisch kaum. Der spezifisch instrumentale Teil der Musik war ein Thema, über das improvisiert wurde - der Gedanke, ein rein instrumentales Stück zu komponieren, wird aus diesen Quellen nicht ersichtlich. Dieser Gedanke wurde erst später verfolgt, und erst dann bildeten sich die Formen wie z.B. die Toccata heraus. Die frühestens Quellen mit solchen Werken treten erst im 16. Jahrhundert auf.

    Es liegt auf der Hand, daß ein Organist, der die Tabulatur beherrscht, irgendwann auf den Gedanken kommen könnte, ein Stück zu komponieren, welches nur dem Instrument verpflichtet ist, auf dem er es spielen kann. Ein Präambulum deutet vom Namen her schon darauf hin, daß dies auch geschehen ist - aber diese Vorspiele waren notiert nie sehr lang. Es gab keine Durchführung verschiedener Themen, kein Durchexerzieren verschiedener Techniken. All das war nicht niedergeschrieben - im Grunde eine parallele Entwicklung, wie es der einstimmige Choral und die frühe Mehrstimmigkeit auch vollzog. Als die Ideen zu komplex wurden, zu spezifisch durchgeführt werden mußten, dann wurde es ein wirkliches Komponieren.

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

  • Vol. 2 - Chansons & Tänze

    (P) 1995 Naxos 8.553467 [75:02]

    rec. April 1995 (Emmauskapelle, Hatzfeld/Eder, Hessen)

    [Orgel: Johann Christian Rindt (1706)]

    Disposition: 1 Manual, 7 Register, Stimmung: mitteltönig, a' = 475,8 Hz

    Inhalt:

    1. Walter Frye: Tout a par moy (252)
    2. Colinetto tertium notarum (56)
    3. Colinetto quartum notarum (57)
    4. Mi ut re ut (Venise) (118)
    5. Aliud Mi ut re ut (119)
    6. Annavasanna quarta (Une fois avant que mourir) (89)
    7. Annavasanna tertia (90)
    8. Annavasanna tertia (91)
    9. Stublin (Languir en mille destresse) (135)
    10. Stublin (136)
    11. Guillaume Dufay: Franc cuer gentil (116)
    12. Gilles Binchois: Adieu mes tres belle (143)
    13. Adieu mes tres belle (144)
    14. Portugaler (43)
    15. Robert Morton: Le souvenir (256)
    16. Gilles Binchois: Deuil angoisseux (59)
    17. Longus tenor (54)
    18. Longus tenor quartum notarum (55)
    19. Gilles Binchois: Qui veut mesdire (128)
    20. Gilles Binchois: Je loe amours (16)
    21. L'ardant desire (133)
    22. J'ay pris amours (239)
    23. Guillaume Dufay: Se la face ay pale (255)

    Auf der zweiten CD ist der Fokus speziell auf weltliche Chansons und Tänze gelegt. Die Intabulierungen zeigen dabei schon deutlich das spielerische Vermögen, was man brauchte, um sie vorzubringen. Das Orgelbuch war in erster Linie sicherlich als Repertoire-Sammlung gedacht, obwohl auch die Möglichkeit einer Ausbildungsvermittlung (allein dank des Fundamentums) nicht von der Hand zu weisen ist. Die Stücke dienten also dazu, dem Spieler einerseits die harmonische Ausrichtung der damaligen Zeit zu vermittlen und andererseits die mögliche Spielbarkeit auf den Instrumenten zu demonstrieren; wir als Hörer bekommen somit einen leichten Einblick in Niveau und Praxis des Orgelspiels im 15. Jahrhundert.

    Und da wird eines sehr schnell deutlich: es mag sein, daß die musikalischen und kompositorischen Möglichkeiten nicht in dem Maße vorangeschritten sind, wie es ein Johann Sebastian Bach in seiner Zeit ausschöpfte - doch sollte man nicht den Fehler machen, deshalb die Organisten des 15. Jahrhunderts für Dilettanten zu halten. Ich hatte ja schon bemerkt, daß der praktische Gedanke immer noch im Vordergrund stand, zumal ich sehr bezweifle, daß ein Orgelmeister nicht so gut sein konnte, wie es das Material es zuließ. Die Grenze des Spielbaren war damals das konkrete Instrument und das Repertoire, was man zur Verfügung hatte. Und innerhalb dieser Grenzen waren Virtuosen wie Conrad Paumann bestimmt ebenso beeindruckend im Spiel wie ein Bach oder Buxtehude.

    All diese ähnlichen Modulationen und Floskeln, die man in den Stücken hört, täuschen leicht darüber hinweg, das es nicht darum ging, Kunstwerke an sich zu produzieren, sondern um die Profession zu erfüllen. Es war Gebrauchsmusik, weil sie eingesetzt wurde in den täglichen Verpflichtungen an Kirche und Hof. Insofern wird ein Paumann ebenso geschätzt worden sein wie ein Guillaume Dufay, der nur Vokales komponierte, obwohl es denkbar ist, daß Vokalmusik im 15. Jahrhundert einen anderen - höheren - Stellenwert hatte als Instrumentalmusik. Aufgrund der Quellenlage könnte man diesen Schluß auch heute ziehen, aber ich bin mir nicht sicher, ob man damit nicht den Kern verfehlt.

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.

  • Vol. 3 - Praeambula & Transkriptionen; Incipit Fundamentum

    (P) 1996 Naxos 8.553468 [77:34]

    rec. Mai 1995 (Ackerman Auditorium, Southern Adventist University, Collegedale/Tennessee)

    [Orgel: John Brombaugh Opus 27 (1984)]

    Disposition: 2 Manuale, 13 Register, Stimmung: mitteltönig, c'' = 557 Hz

    Inhalt:

    1. Praeambulum super C (216)
    2. Entrepis (106)
    3. Wann ich betracht die vasenacht (175)
    4. Sub tuam protectionem (40)
    5. Möcht mich gedencken bringen dahin (215)
    6. Ker uber her zu mir ker her (183)
    7. Vil lieber zeit uff diser Erde (51)
    8. Wach uff myn Hört (218)
    9. Wolhin lass vögelin sorgen (219)
    10. Praeambulum super C (194)
    11. Lieblich vernüwet (220)
    12. Min lieby zart (192)
    13. Min Hertz In höhen fröude (67)
    14. Trinck und gib mir auch (173)
    15. Des Klaffers nӱd tüt mich mӱden (146)
    16. Es fur ein buwer Jns holtze (182)
    17. Hertz mut und all myn synn (197)
    18. Luffile (198)
    19. Der dickel mit siner höuwerin (177)
    20. Bonus tactus super f e d c d
    21. Der winter will hin wichen der was mir huwer also lang (32)
    22. Der winter will hin wichen (33)
    23. Der winter (34)
    24. Ob lieb din Lieb (180)
    25. Die ich erwelt und mir gewelt (179)
    26. Min hertz In hohen fröuden (181)
    27. Ellend (94)
    28. Vil lieber zit (217)

    Conrad Paumann:

    • Incipit Fundamentum M. C. P. C. (189)
      1. In idem Redeuntes
      2. Bonus Tactus

    Die letzte CD enthält Bearbeitungen von Liedern, die die übliche Spielweise vermittlen soll: zu der Melodie sind 1-2 Stimmen mit typischen Kadenzflosken oder Füllstimmen versehen, die hier ausgeschrieben sind. Anhand derer soll der Organist später selbstständig eine Ausschmückung im täglichen Spiel dazuimprovisieren. Die Vorlagen sind zumeist deutsche Lieder, die sicherlich weit verbreitet waren.

    Weiterhin liegen einige Präambula vor. Sie führen in die Möglichkeit einer vokalunabhängigen Spielweise ein und sind erstaunlich kurz, was darauf hindeutet, daß sie lediglich Spielmodelle für ein improvisatorisches Ausführen sind. Damit wurde den Organisten die Grundlage für ein instrumentales Ausschmücken an die Hand gegeben, die sicherlich die eigentliche Güte ihrer Profession ausmachte.

    Dennoch sollte man nicht vergessen, daß es ebenso konkrete Kompositionen sind, die die typische Harmonik und Verarbeitungstechnik ihrer Zeit wiedergeben. Sie dienten den Organisten auch als Spielvorlagen für ihre täglichen Pflichten an der Orgel oder anderen Instrumenten. Für uns selber bedeutet es heutzutage, den Blick auf eine verflossene Welt zu richten, die zeigt, daß man auch damals bereits ans Limit ging, um der Musik neue Ausdrucksweisen abzutrotzen oder schlicht eine gute Zeit zu haben.

    Zu guter Letzt wird die Einspielung mit dem Fundamentum Organisandi beschlossen: auf gut 33 Minuten werden sämtliche spielerische Möglichkeiten, die bis dato für die Orgel erarbeitet worden waren, in konzentrierter Form dargeboten. Kadenzen, Übergänge, Begleitungen, Ausführungen für 2-4 Stimmen sind exemplarisch aneinandergereiht. Tatsächlich zeigt sich hier, wie sehr die Ausbildung an den Gegebenheiten des Orgelbaus gekoppelt war. Conrad Paumann stand an einer ganz wichtigen Zäsur innerhalb der Orgelgeschichte: er war Träger einer neuen Zeit, die spielerisch dem Fortschritt im Orgelbau entsprach, die den neuen Möglichkeiten der Registratur und manualen Spielweise eine musikalische Vision dazustellte. Die Zeit mit langen Haltetönen in der Melodiestimme oder enger harmonischer Begleitung, die das Mittelalter ausmachte, war in der Renaissance passé. Um 1450 ergaben sich neue Impulse, die die zukünftigen Generationen an Organisten aufgriffen und weiter durchformten.

    Für mich persönlich ist es auch kein Zufall, daß die ältesten erhaltenen Orgeln der Welt nie aus der Zeit vor ca. 1430 stammen - denn die viel älteren Instrumente waren baulich so weit eingeschränkt, daß sie die moderne Spielweise nicht realisieren konnten, ohne immens umgebaut werden zu müssen; es kam stets einem Neubau gleich. Deshalb sind keine Spielbaren erhalten geblieben.

    Unser *opi* nahm *opi*-um - Bumms! fiel unser *opi* um.