BWV 245 - Johannes-Passion

  • Wenn man Bachs Johannespassion verfolgt, die Stellen mit den Juden vor Pilatus; und wie das geschildert und dargestellt ist; diese geifernde Menge mit der Mordlust in den Stimmen; dann möchte man selbst als Atheist ärgerlich werden über dieses Volk; das den Heiland ans Kreuz nagelt und sich dabei nicht einmal selbst die Hände schmutzig machen will, sondern das Handwerk des Todes den römischen Besatzern überlässt; schäbiger geht es doch gar nicht. Dann stutzt man, fragt sich; was Bauch wohl intendiert hat; bzw. was die heilige Schrift in den Evangelien uns glauben machen will und wie sich historisch womöglich alles zugetragen haben könnte; von den religionspsychologischen Aspekten ganz zu schweigen. Quid est veritas? Wo beginnt die Kunst und wo die Manipulation?

    "Wenn man sich nur das Urteilen abgewöhnen könnte, dieses dilettantische Verfälschen der Dinge! Wir wollen immer verstanden werden und sind selber unerbittlich verständnislos." (Verdi bei Franz Werfel)

  • Die Evangelien sind alle nach dem jüdischen Krieg 66 -74 entstanden. Das Christentum hat in dieser Zeit als ein jüdische Sekte gegolten und musste während und nach diesem Krieg zum Judentum auf Distanz gehen, weswegen es zu dieser Rom schonenden Darstellung des Prozesses Jesus in den Evangelien kam.

    Fakt ist jedoch, dass Pontius Pilatus Jesus zum Tode verurteilt hat und sonst niemand.

    Die Darstellung einer jüdischen Menschenmenge, die die Kreuzigung Jesus fordert ist also eine literarische Fiktion (mit tragischen Folgen).

    Siegfried

  • Es waren mit Sicherheit keine Volks-,,Massen", sondern eher die Mitglieder des Sanhedrin, des Hohen Rates. Man darf ja nicht vergessen, dass der Hohe Rat gerade in den Tagen davor den Volkszorn so sehr gefürchtet hat ( ,,...auf das es nicht einen Aufruhr gebe im Volk"), dass zu dieser höchst seltsamen Nacht-und-Nebel Festnahme kam.

    Und man darf auch nicht vergessen- die Vernehmung vor Pilatus fand in den frühesten Morgenstunden statt. Da waren wohl auch nicht so leicht Menschenmassen zu aktivieren, denen man eh nicht traute...

    Ich habe vor fast 30 Jahren mal eine theologische Hausarbeit zur Person des Judas Iskariot geschrieben. Durch die ( mutmaßlichen) Fehldeutungen seiner Person, seiner Motive und seines tatsächlichen Handelns ist die Passionsgeschichte erst in die bis heute bestehenden Deutungsmuster geraten. Nur die bekannten Fakten zugrunde gelegt und mal mit dem Blick der Sachverhaltsaufklärung eines modernen Strafgerichts auf die Ereignisse jener Tage in Jerusalem geschaut ( ohne tradierte Motivationsunterstellungen bitte) entsteht wahrhaft ein Justizthriller in dem vieles daraufhin deutet, dass wir zwar in den Evangelien alles notwendige gezeigt bekommen, aber eben nicht SEHEN, dass es ganz anders gewesen sein könnte...

    Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine.

    Dr. Martin Luther

  • Ich halte das, was Du schreibst, für sehr plausibel.

    Irritiert hat mich Siegfrieds Bemerkung

    Das Christentum hat in dieser Zeit als ein jüdische Sekte gegolten und musste während und nach diesem Krieg zum Judentum auf Distanz gehen

    M.a.W., die im Johannesevangelium geschilderte Zwietracht ist keine solche zwischen dem Christentum und dem Judentum, sondern es wird eine interne Auseinandersetzung geschildert, die sich zwischen Jesus/seinen Anhängern und der Führungselite (Hohepriester/Diener) abspielt.

    • Offizieller Beitrag

    Konrad Schmid, Jens Schröter
    Die Entstehung der Bibel. Von den ersten Texten zu den heiligen Schriften

    Das habe ich dazu zuletzt gelesen; leider nicht so gut, wie ich es mir erhofft hatte.

  • Irritiert hat mich Siegfrieds Bemerkung

    Das Christentum wurde im 1. Jhdt. in Rom wenn überhaupt, dann nur als etwas Jüdisches wahrgenommen. Mit dem jüdischen Krieg, den zu gewinnen Rom doch mehr als nur einige Anstrengungen gekostet hat, waren Juden die nächsten Jahre nicht mehr besonders erwünscht, weswegen sich die Christen genötigt sahen, sich von den Juden deutlich zu distanzieren und daher die Schuld an Jesus Tod explizit dem hohen Rat der Juden zuschrieben und sich Rom in Person des Pontius Pilatus die Hände in Unschuld waschen ließen.

    Sonderbarer Weise wird dieser jüdische Krieg nur kaum wahrgenommen, obwohl schon alleine der Fall von Masada zeigt, mit welcher Heftigkeit er geführt wurde. Aber auch seine Fortsetzung im Diaspora- und Bar Kochba-Aufstand (116, 132 - 135) zeigen, dass die Juden damals nicht ohne waren und es durchaus verständlich ist, dass sich die frühen Christen von ihnen distanziert haben.

    Siegfried

  • Auch wenn das, was Du schilderst, durchaus in Fachkreisen anerkannt ist, sehe ich ( natürlich wie immer ohne Anspruch, absolute Wahrheiten zu verkünden), das etwas anders.

    Ich finde nämlich gar nicht, dass der Hohe Rat in so ein besonders schlechtes Licht gerückt wird. Sicher, sie wollten Jesus loswerden und haben trotz ihrer Angst vor einem Volksaufstand nicht zum Mittel eine meuchelnden Dienstleisters gegriffen, nein, sie wollten ein ,,rechtsstaatliches" Verfahren nach damaligen Standards.

    Jesus wurde vorgeführt, es wurden Zeugen gehört aber ,,deren Zeugnis passte nicht zueinander". In vielen vermeintlichen Rechtsstaaten hätten sich ,,Staatsschutzsenate" ( als solcher agiert der Sanhedrin hier m.E.) sich großzügig über die Widersprüche hinweggesetzt. Nicht so hier. Man will eine saubere Beweisführung. Und somit provoziert der Hohepriester Jesu mit der Frage ,,Bist Du Gottes Sohn". Natürlich ist Jesus da nicht in eine Falle gegangen ,sondern er will es jetzt ausdrücklich bekennen ,,Du sagst es". Beweis der Gotteslästerung nach jüdischer Rechtsauffassung erbracht!

    Und wieder läge es doch nahe, dass man nun den Mob von der Kette lässt, dass Jesus gesteinigt oder gelyncht wird. Aber nein, der Hohe Rat erkennt an, dass sein ,,Strafrahmen" für die zugegeben beabsichtigte Todesstrafe nicht ausreicht und verweist das Verfahren an die nächsthöhere Instanz- den Landpfleger Pontius Pilatus. Dort treten die Gesandten des Sanhedrin klar als Ankläger auf. Aber Pontius Pilatus war nun mal der Richter, ein wenig interessierter und ziemlich hilflos agierender Richter, der ein bisschen herumverhandelt und dann dem Hohen Rat seinen Willen lässt. Dass er wirklich eingeschüchtert war, als die Juden ihm drohten ,,Lässt Du diesen los, bist Du des Kaisers Freund nicht" halte ich für ein sehr schwaches Argument. Gerade weil die Ereignisse in Palästina in Rom so wenig Interesse fanden, dass nicht mal der jüdische Krieg es auf die Titelseiten brachte, was hätte da eine ,,Dienstaufsichtsbeschwerde" einiger jüdischer Funktionäre gegen den Gouverneur Roms bewirkt...?

    Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine.

    Dr. Martin Luther

  • Gerade weil die Ereignisse in Palästina in Rom so wenig Interesse fanden

    Rom hat vier Legionen plus die dazugehörigen Auxiliartruppen aufgeboten, diesen Aufstand zu beenden. Nach erfolgreicher Niederschlagung wurde dem kommandierenden Feldherren Titus ein Triumphzug genehmigt, zwei Triumphbögen errichtet (von denen nur noch einer steht) und Gedenkmünzen geprägt. Rom hat sich da also sehr wohl interessiert dafür, die Nachwelt jedoch weniger.

    Da aber das Johannesevangelium, auch wenn es auf Tatsachen beruht, doch Literatur ist und nicht Bericht oder Protokoll, kann man es als eine in sich geschlossene Erzählung betrachten oder man betrachtet es vor dem Hintergrund der historischen Fakten, als historische Quelle sollte man es jedoch nicht verwenden.

    Siegfried

  • Naja, der jüdische Krieg begann im Jahre 66 also 33 Jahre nach den hier in Rede stehenden Ereignissen... da ist schon noch Einiges an Wasser den Jordan herabgeflossen.

    Außerdem beziehe ich mich nicht auf das Johannesevangelium allein, sondern auf die Evangelien in der Gesamtschau. Und da sind die Quellen ( Markus) auch noch etwas näher an den Ereignissen dran als Flavius Josephus. Berücksichtigt man spekulativ noch, dass in der Spruchquelle Q Aussagen zum Passionsgeschehen enthalten sein könnten, hätte man wahrscheinlich Augenzeugenberichte.

    Natürlich sind diese literarisch ausgeformt worden und das bei Johannes mehr als bei den anderen. Betrachtet man es aber synoptisch bleibt ein deutlich stabilerer Ereigniskern als es historisch-kritische Bibelauslegung wahrhaben will.

    Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine.

    Dr. Martin Luther

  • Also meines Wissens nach ist das Markus-Evangelium um 70 entstanden, Matthäus und Lukas um 80 und Johannes um 100. Meine Frage nun: wie alt sind eigentlich die ältesten Textdokumente? Kennt man die Schreiber dieser Texte? Entsprechen diese Texte dem, was die Evangelisten geschrieben oder haben frühe Theologen die Texte in ihrem Sinne etwas zurecht gebogen?

    Siegfried

    • Offizieller Beitrag

    Also meines Wissens nach ist das Markus-Evangelium um 70 entstanden, Matthäus und Lukas um 80 und Johannes um 100. Meine Frage nun: wie alt sind eigentlich die ältesten Textdokumente? Kennt man die Schreiber dieser Texte? Entsprechen diese Texte dem, was die Evangelisten geschrieben oder haben frühe Theologen die Texte in ihrem Sinne etwas zurecht gebogen?

    Siegfried

    Steht da drin ... *yes* ... kann ich dir mal rumschicken ... oder ich referiere es in einer ruhigen Minute ...

  • Die Entstehungszeit des Markus-Evangeliums wird heute gerne mit dem Jahr 70 angegeben. Wenn man Mk 13,2 als ,,echte" Prophezeiung ansieht- wofür theologisch einiges spricht- landet man aber unweigerlich VOR dem Jahr 70 ( der große Neutestamentler Klaus Berger sei hier als Quelle benannt). Bis ins 20 Jahrhundert hinein ,auch noch in meiner Studienzeit ging man vom Jahre 60 aus. Frühere Bibelwissenschaftler gehen sogar bis 40,45 zurück, das erscheint mir aber zu weit gegriffen. Ich gehe von 60 aus und davon, dass die Zerstörung des Tempels in Mk13,2 als echte Prophezeiung zu werten ist.

    Und die ältesten Texten des NT sind die echten Paulusbriefe, alle so zwischen 50 und 60 geschrieben- der 1.Thessalonicher ist nach meiner Kenntnis der älteste ( auf 50 datiert) es folgen die Korintherbriefe 55 bzw.56...

    Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine.

    Dr. Martin Luther

    • Offizieller Beitrag

    Das oben verlinkte Buch geht in fast allen Bereichen des ATs und NTs von teilweise wesentlich jüngeren Entstehungszeiten aus; geschöpft aus den Ergebnissen der Forschungen in den letzten 30 bis 50 Jahren.

  • Ja, das weiß ich, die historisch- kritische Bibelauslegung setzt so hohe Nachweishürden- das halte ich bei Geschehnissen, die mehrere tausend Jahre her sind für absolut unerreichbar.

    Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine.

    Dr. Martin Luther

    • Offizieller Beitrag

    Absolut. Auf das Problem weisen die Autoren auch hin. Da es vor der schriftlichen Niederlegung und Kanonisierung oft eine jahrhundertelange mündliche Trdaierung gibt und zwar nicht nur bei der jüdischen Bibel, sondern auch im NT; ist jede exakte Datierung sehr schwierig.

    • Offizieller Beitrag

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    Das war übrigens mein erstes Buch zur Leben-Jesu-Forschung, zur historisch-kritischen Bibelexegese. Vom innig geliebten St.-Benno-Verlag. Aber eben inzwischen auch schon lange überholt, fürchte ich.

  • Absolut. Auf das Problem weisen die Autoren auch hin. Da es vor der schriftlichen Niederlegung und Kanonisierung oft eine jahrhundertelange mündliche Trdaierung gibt und zwar nicht nur bei der jüdischen Bibel, sondern auch im NT; ist jede exakte Datierung sehr schwierig.

    Und wenn ich dann noch die apokryphen Evangelien herbeiziehe, die ja teilweise nur durch einen erbitterten Konkurrenzkampf der Protagonisten der frühen Kirche aus der Bibel eliminiert wurden, obwohl sie durchaus beachtenswerte narrative Quellen hatten, wird es vollends unübersichtlich...

    Die kann ich Dir dazu übrigens wärmstens empfehlen

        


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    Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine.

    Dr. Martin Luther

    • Offizieller Beitrag

    Ich habe die Links mal repariert ... :wink: ... immer die Nummern ohne Striche nehmen und wenn es dann nicht klappt wie gehabt über die Grafikadresse, wie ich beim rechten gemacht habe ...

    Ich selbst nutze seit Jahrzehnten: