Wenn man mich nach den bedeutendsten deutschsprachigen Prosaschriftstellern nach dem 2. Weltkrieg fragt, setze ich ohne zu zögern nach der Nennung von Arno Schmidt und Reinhard Jirgl den Namen Uwe Dick dazu, obwohl es rein äußerlich gesehen Gründe genug geben möchte, ihn nicht in diese Ehrengarde einzureihen. Aber Uwe Dick gehört in die Traditionslinie genial sprachschöpferischer, urwüchsig kreativer und kompromisslos moderner Dichter; die mit Martin Luther und Johann Fischart beginnt, sich über Grimmelshausen und Jean Paul fortsetzt und eben beim Solipsisten aus der Bargfelder Heide und seinem einzigen echten Nachfahren und Überwinder aus Ost-Berlin endet.
Leider macht es der Autor seinen Lesern auf verschiedenen Ebenen sehr schwer, sodass seiner Rezeption gleich mehrere Brandmauern im Wege stehen:
Zum ersten ist Uwe Dick zwar Autor vieler kleinerer Bücher mit Gedichten und Texten, sein Hauptwerk aber, die „Sauwaldprosa“, erschien über Jahrzehnte in immer wieder vermehrter Auflage und kann erst jetzt mit der letzten als vollständig gelten. Im Jahr 1976 erschien die 1. Auflage noch beim Verlag Ehrenwirth mit ganzen 67 Seiten; die letzte und endgültige 6. von 2022 bei Wallstein hat 666 Seiten in einem großformatigen zweispaltigen Band, also gut und gerne 1000 Seiten in normalem Format. Dazwischen liegen die 2. Auflage mit 103 Seiten auch noch bei Ehrenwirth, die 3. 1981 bei Heyne mit 175 Seiten, die 4. 1987 bei Piper mit 256 Seiten und die 5. 2001 beim Residenz Verlag mit 587 Seiten, die 2008 in einer Neuausgabe wahrscheinlich anlässlich der Verleihung des Jean-Paul-Preis des Freistaates Bayern erschien, in der ich Uwe Dick zuerst kennengelernt habe; spät, aber nicht zu spät. Aber so wuchs das Buch in beinahe einem halben Jahrhundert sich aus, das Alte blieb drinnen und Neues kam beständig hinzu in neuer Ordnung; wer sich interessierte, musste chronologisch mit dem Autor alternd jede neue Auflage erstehen oder wie ich rückwirkend alle mühsam zusammensuchen und erwerben
Zum zweiten schreibt Uwe Dick eine Sprache, die nur wenigen Schriftstellern deutscher Zunge gegeben war und ist. Das ist keine betuliche Prosa, kein Bildungsbürgergewäsch, kein Kitsch, keine Schmonzette, kein ausgewaschenes blasses Deutsch; das ist immer kraftvoll, schöpferisch, verknappt, originell, erfinderisch, vital. Wie nur ganz wenige vor ihm hat er die deutsche Sprache bis an die Grenzen des Sagbaren und zuweilen auch darüber hinaus erweitert; syntaktisch weniger als lexikalisch und semantisch zündet er ohne Rücksicht auf hergebrachte Lesegewohnheiten ein verbales Feuerwerk nach dem anderen und ich scheue mich, das experimentelle Literatur zu nennen, wo es doch klassischer nicht sein könnte, wenn wir seine oben genannten übergroßen Ahnen in den Blick nehmen.
Zum dritten ist Uwe Dick nicht zimperlich, sondern ein rechter Grobian: Was der potenziell schon nicht so reichlich vorhandene Leser sich anhören und ins Gesicht sagen lassen muss, könnte heutzutage zivilrechtlich in eine Prozesslawine ausarten. Zwar spart der Autor auch sich nicht aus, aber die Dummen und Doofen sind schon meistens die anderen.
Zum vierten ist Uwe Dick ein geborener Oberbayer, der in Niederbayern lebt. Und wie sich ihm das Innviertel zum Inniversum weitet, ist auch seine Sprache ohne die diversen süddeutschen Ausformungen nicht zu denken. Für einen Thüringer und Mitteldeutschen wie mich mag das noch angehen; aber je weiter es nordwärts zieht, desto schwerer dürfte es Niedersachsen, Holsteinern, Mecklenburgern fallen, allen Nuancen ohne Wörterbuch zu folgen.
Und schließlich und ganz entschieden ist Uwe Dicks Prosa eine mündliche Dichtung, auch wenn sie gedruckt auf dem Papier steht. Sie muss, um ihre volle Wirkung entfalten zu können, gesprochen werden, vorgetragen, rezitiert; am besten im Wirtshaus, im Wald, auf der Gassen, in der Kirche, auf dem Marktplatz. Es muss nicht der Dichter selbst sein, von dem es Hörbücher genug gibt und den man live immer noch erleben kann mit seiner Vortragskunst; aber es ist schon gut, wenn man jemanden hätte, der wie weiland Fritz Straßner oder heuer Gerhard Polt, Fredl Fesl oder der Stofferl dem Mundartlichen organisch gewachsen ist. Aber auch der Sachse oder Rheinländer ist gut beraten, die Seiten nicht einfach leise zu lesen, sondern laut sich vorzutragen in wachsendem Furor und energisch schreitend zwischen Küche und Bad.