Yoricks Nachtgedanken bei Tage

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    Jede Anschauung der Welt, die den Menschen der Gegenwart und der Vergangenheit als bloßes Entwicklungsstadium versteht, als Stufe einer Leiter, als bloßes Bindeglied einer Kette, die noch fertiggeschmiedet werden muss; als Larve vor der Verpuppung, als unvollkommen, unfertig, halbseiden und noch nicht ganz Mensch; und die Veredelung, Vervollkommnung, Erfüllung und Vollendung des Menschengeschlechts in eine fernere Zukunft, die es zu erreichen gilt, welche Opfer es auch unter den Vorläufermodellen zu beklagen gölte, verlegt; ist ideengeschichtlich natürlich nichts anderes als eine teleologische und damit eine durch und durch inhumane, zutiefst menschenverachtende und entwürdigende.


    Nicht einmal der christlichen Heilsgeschichte zu vergleichen, weil die theologische Sicht auf den Menschen immer davon ausgeht, dass jeder Mensch unmittelbar zu Gott steht; wenn auch im Katholischen vermittelt durch das Priesteramt; wie der alte Ranke später sagt, dass jede Epoche unmittelbar zu Gott ist und ihr Wert gar nicht auf dem, was aus ihr hervorgeht, sondern in ihrer Existenz selbst, in ihrem Eigenen selbst beruht. Wer von einem Endziel der Geschichte jenseits aller Theologie und nur mit Blick auf eine säkulare Teleologie ausgeht, degradiert den einzelnen Menschen, das jeweilige Individuum, zu einer Nichtigkeit und Unwesentlichkeit, deren Sinn sich lediglich in einem Vorläufertum, einem Treppenwitz erschöpft; Steigbügelhalter kommender strahlender Kömmlinge des Lichts.


    Humanismus bedeutet, dass JEDER Mensch aus JEDER Epoche, egal wo er lebt und wie und mit welchen anderen Menschen und in welcher Gesellschaft, in sich eine abgerundete Bedeutung und Sinnstiftung erfährt, die unabhängig ist von seinen Ahnen und seinen Nachkommen. Vervollkommnung und Vollendung existieren nur in ihm selbst, denn da sind sie angelegt; und indem sie sich in ihm ereignen, ereignen sie sich auch in seinem unmittelbaren und ferneren sozialen und gesellschaftlichen Umfeld. Des Rätsels Lösung lässt sich auf keine Zukunft verlagern oder in den Tiefen der Vergangenheit finden, es ruht seit Anbeginn in jedem Menschen selbst, auch wenn er aus der Kultur schöpft und ein Verständnis für das Kommende hat, für das er Verantwortung fühlen mag.


    So erweist sich die moderne Ideologie in der westlichen Welt als eine Spätform der beiden großen politischen Ideologien des 20. Jahrhunderts, denn im Bolschewismus und Faschismus zählte der einzelne Mensch auch nichts, nur in der bewegten Masse; während im linksliberalen Kosmos der einzelne Mensch an sich für sich selbst steht, aber eben nur mit Vorbehalt als Übergang zum besseren Menschen verstanden wird. Man könnte also sagen, dass aus dem sozial-mental horizontal verstandenen Kommunisten und Nationalsozialisten der chronobiologisch vertikale westliche Jetztmensch des 21. Jahrhunderts erwachsen ist. Bleibt die Frage, ob diese Entwicklung durch die alteuropäischen Traditionen von Renaissance, Humanismus, Aufklärung, Liberalismus erst möglich wurde?!

    "In dieser Woche habe ich d r e i m a l die Matthäuspassion des göttlichen Bach gehört, jedes Mal mit demselben Gefühl der unermesslichen Verwunderung. Wer das Christentum völlig verlernt hat, der hört es hier wirklich wie ein Evangelium." Friedrich Nietzsche