Erich Leinsdorf, Dirigent von Tradition und richtungsweisender Kühnheit
Er übernachtete im Hotel „Mozart“, wenn er in Frankfurt beim Hessischen Rundfunk dirigierte. Während ich mich an ein kurzes Gespräch mit ihm vor seinem Hotel erinnere, als ich ihn um ein Autogramm bat (1974), höre ich unter ihm die Haffner Sinfonie, KV 385... mittlerweile die Linzer, Köchel 425.
Ich würde bezüglich seiner Mozart-Interpretationen gerne mal mit jemandem vom Forum diskutieren, der die Kriterien der historischen Aufführungspraxis kennt (ich bin da die falsche Adresse). Leinsdorfs Deutung erlebe ich nämlich schon recht ausgeprägt in diese Richtung; vielleicht als eine Art Vorläufer/Vorbild (?) für diesen knapp 10 Jahre später – wie Phönix aus der Asche - sich verbreitenden und in unser Bewusstsein schießenden >neuen Interpretationsansatz< .
Leinsdorf hat zwischen 1955 und 1960 alle 41 Sinfonien mit dem Royal Philharmonic Orchestra London aufgenommen (erschienen bei der DGG, wiederaufgelegt 2005). Obwohl er kein Spezial-Orchester dirigierte, klingen seine Mozart-Interpretationen (Sinfonien) sehr trocken, ja aufgerauht im Klang, ungeheuer linear drängend, folglich >forsch unlieblich< , kein Mozart-Kugeln-Mozart, auch kein frühromantischer, wie bei Furtwängler und Walter, auch kein hausbackener mit Wienerischem Anstrich wie bei Karl Böhm. Die 7 CD-Box möchte ich allen Mozartianern ans Herz legen.
In den siebziger Jahren habe ich E. L. im Sendesaal des Hessischen Rundfunks mit >Schönbergs Gurreliedern< und der Pastorale des Ludwig van B erlebt. DAS waren für mich unvergessliche Aufführungen. Es waren meine ersten Gurrelieder, die seitdem für mich zu einem immens wichtigen Werk geworden sind. Sein Dirigierstil war da anders als bei den Mozart-Sinfonien. Der vorherrschende große romantische Ton war stets vorwärtsdrängend, Leinsdorf sah immer die große Linie, aber auch das Pathos, wenn auch stets funktional eingesetzt.
Der >Effekt< als Selbstdarstellungsmoment war ihm fremd. Wenn man seine Mozart-Sinfonien im Ohr hat, wirkt sein Don Giovanni aus dem gleichen Jahr befremdlich. Befremdlich deswegen, weil er eher in der >romantisierenden Tradition< eines Furtwängler steht (wenn auch forscher in den Tempi). Die Aufnahme mit Siepi, Corena, Nilsson, L. Price hat natürlich ihre Meriten... ist aber Gestirne entfernt von einer heutigen Auslegung eines Östman, Jakobs, Gardiner, Hanoncourt (Concertgebow), Harding oder Welser-Möst.
Das romantisch bis klassisch-moderne Repertoire war eigentlich seine Domäne. Seine Verdi und Wagner-Interpretationen, egal ob Macbeth, Don Carlos, Tannhäuser oder Walküre, gehören bis heute zu den Meilensteinen in der Rezeptionsgeschichte. Leinsdorf war in den Vierzigern Chef der MET, später leitete er 7 Jahre das Orchester in Boston, war Nachfolger von Fricsay beim RIAS in Berlin, gastierte eigentlich überall in der Welt, ab 1970 hauptsächlich in Europa (Wien, London etc). In seinen letzten zwanzig Jahren ließ er mehr und mehr von der Oper, legte seinen Schwerpunkt auf die großen sinfonischen Werke von Beethoven, über Brahms, R. Strauss, Mahler zu Tschaikowsky, Bartok, Strawinsky, etc. Gestorben ist er mit 81 Jahren 1993 in Zürich, geboren war er 1912 in Wien, ab 1939 amerikanischer Staatsbürger.
Charakterisieren könnte man ihn als analytisch versierten Espressivo-Dirigenten, verpflichtet einzig den Partituren der Komponisten. Wenn ein Dirigent, der über 300 Wagner-Aufführungen und fast genauso viel von Giuseppe Verdi geleitet hat, das Debut der Varnay 1940 als Sieglinde (Einspringerin an der MET) eingeschlossen, weiterhin mit Sängern von Melchior über Flagstad, Traubel, George London, Dieskau, Nilsson bis zu Leontyn Price, der Tebaldi und Lisa della Casa, über 30 Jahre an allen großen Opernhäuser erfolgreich gearbeitet hat... und dann ganz nebenbei eine bahnbrechende (antiromantische) Gesamteinspielung aller Mozart-Sinfonien (vor über 50 Jahren ! ) hinlegt... ist er nicht nur ein vielseitiger, sondern ein ganz außergewöhnlicher Maestro.
Arnulfus