- Offizieller Beitrag
„Schreyt, denn ich bin taub!“
Taubheit ist das schlimmste, was ich mir persönich für einen aktiven Musiker vorstellen kann. Etwas schlimmer vielleicht noch, wenn man sein eigenes Ertauben aktiv miterleben muß, wie dies bei Ludwig van Beethoven der Fall gewesen ist. Was muß dieser Mensch durchgemacht haben? Und was hat er uns dennoch für sagenhafte Meisterwerke hinterlassen!
"Beethoven war so taub, daß er sein ganzes Leben lang dachte, er malt." Dieser Spruch gewinnt an Witzigkeit im Sinne von "geistreich", wenn man beispielsweise die Tonmalerei als Synonym für das Komponieren an sich in Betracht zieht. Aber es geht durchaus noch weiter: Wenn man wirklich davon ausgeht, dass Beethoven in den letzten Jahren, in denen er fast bis ganz taub war, ja zwangläufig nichts mehr gehört hat - dann hat er tatsächlich gemalt. Terry Pratchett, der Vater der (vielleicht?) bekannten Scheibenwelt-Romane, spielt wohl auch darauf an, wenn er süffsant meint: Taubheit hindert den Komponisten keinesweg daran, die Musik zu hören. Sie schützt ihn nur vor Ablenkung.
Meine diesbezügliche Fragestellung als Diskussionsthema ist dahingehend etwas kompliziert darzustellen. Natürlich hatte Beethoven als noch Hörender sehr viel Hörerfahrung, die ins spätere Komponieren einfließen konnte. Doch wenn ich beispielsweise die letzten Takte der 9. Sinfonie in Betracht ziehe, so bin ich der Meinung, dass solche Klänge durchaus ausschließlich von einem tauben Menschen erdacht werden konnten: Da ist so viel durcheinander - auch bei der "großen Fuge", die ich bekanntermaßen sehr schätze. Irgendwie sieht es auf dem Papier (bezogen auf die Druckform) sehr wohl durchdacht und strukturiert aus, es erklingt aber ein beinahe totales Chaos. Ob Beethoven sich dessen bewußt war, das ist meine Frage... Ich meine dabei (bei aller Dreistigkeit meiner Unterstellung), daß Beethoven in seinen letzten Jahren sehr wohl eine Sinfonie à la Eroica oder ein Clavierkonzert wie sein Fünftes noch im tauben zustand aus Erfahrung hätte schreiben können, aber diese 'neuen Klänge' der Neunten Sinfonie haben imo doch einen ganz anderen Hintergrund, der nicht nur allein auf Erfahrung basieren kann (?). Noch wesentlich interessanter wäre die Frage, inwieweit diese "Zufallsprodukte" aufgrund von Beethovens Taubheit, die ich jetzt einfach mal dreist unterstelle, Einfluß auf Werke anderer Komponisten nahmen. Ich weiß, es ist alles etwas weit hergeholt und rein spekulativ, aber sehr interessant.
In dem Zusammenhang ist das bei den Collegen gestartete Thema Beethovens "Neunte" in HIP-Aufnahmen - warum gibt es keine wirklich guten? für mich eigentlich schon beantwortet: es gibt für überhaupt keine guten Neunten, ob HIP oder wasimmer... es kann keine geben. Wenn ich nämlich die Partitur zur Hand nehme und mir insbesondere den letzten Satz durchlese, finde ich ihn genial und kann alles auf die wunderbarste Art nachvollziehen. Höre ich ihn dann von CD, empfinde ich meistens, daß es nicht 'klingt' - große Enttäuschung macht sich breit; und das bei einer Auswahl von sagen wir etwa 10 verschiedenen mir bekannten Interpretationen. Ich bin ja immer noch der Meinung, daß es sich dabei um reine Kopfmusik Beethovens handelt, die nur vorstellbar aber niemals realisierbar ist.
Die Aussage des Satzes kann m. E. nicht so richtig auf CD eingefangen werden, da es sich nicht mehr nur um reine Musik handelt, sondern diese eine gewisse Realität beinhaltet, die man (also ich) nur live erleben kann. Noch immer bin ich auf der Suche nach einer mir mundenden Einspielung des Finalsatzes (bei den Sätzen eins bis drei bin ich weniger kritisch und relativ einfach und schnell mit vorhandenen Einspielungen befriedigt).
Die meisten Einspielungen 'leiden' m. E. unter dem Erfolgsdruck, möglichst bombastisch zu wirken, nein sein zu müssen, was vermittelst kläglich schreiender Soprane bei Chor und Solo gründlich in Katzenjammer endet. Insofern bin ich mit Spering ganz zufrieden, weil hier eher gefühlvoll musiziert wird. Das aber wiederum wird der Aussage des Finalsatzes weniger gerecht...
Mir geht es bei der Missa solemnis ganz gleich - von CD bisher ein Nogo, live überwältigend.