Hallo,
in einem anderen Forum, das Wert darauf legt, nicht verlinkt zu werden, um nicht zu be... äh... rühmt zu werden, las ich sinngemäß in einer aktuellen Diskussion die Zeilen, HIP (mal verallgemeinert für HIP, HAP, OPI) habe sich zwar in der Barockmusik durchgesetzt, frühe Werke von Haydn und Mozart aufgewertet und Biber und Vivaldi erst anhörbar (im Sinne von erträglich?) gemacht, bei Beethoven und spätem Mozart aber stehen die Fragezeichen.
Wenn ich mich in diese Diskussion einschalten könnte, was ich hiermit auf meine ganz eigene Weise tue, kämen anstelle der Fragezeichen mehrere Rufzeichen! Gerade Beethoven wurde durch die historisch informierte Herangehensweise wieder interessant gemacht - der Autor seiner Zeilen unterschlägt nämlich die von ihm bewunderten (durchaus bizarren) Interpretationen von Arthur Schoonderwoerd und seinem Ensemble Cristofori: das ist radikal im Vergleich zum Gänseblümchen-HIP á la Gardiner und Herreweghe. Nach meinem resp. unserem letzten Besuch bei Mr. Schoonderwoerd kann ich sogar fast hoch und heilig versprechen, daß auch und gerade der späte Mozart demnächst in einem ganz neuen Gewand erscheinen wird, ungehört und unerhört neu, so daß die (berechtigte) Frage auftreten wird: DAS soll MOZART sein? Ja, das IST Mozart... und zwar imo in seiner reinsten und schockierendsten Form, so wie er damals seinem Publikum mit neuartigen Klängen den Garaus gemacht hat.
Ganz ohne die Frage, ob HIP nun historisch korrekt oder haltbar ist: die HIP-Bewegung sorgt (wie die Bezeichnung dies bereits intendiert) für Bewegung in der Musikszene und - zumindest meiner bescheidenen Meinung nach - trägt sie auch viel dazu bei, daß besonders jüngeres Publikum (ich meine Personen bis ca. 25/30 Jahre) von dieser Interpretationsart magisch angezogen wird. Vielleicht nicht, weil es (angeblich, was z.T. auch fraglich ist) historisch korrekt ist, sondern weil die Musik endlich wieder wie lebendige Musik klingt und nicht wie verfettete Rauchwürste, die man sich gewohnheitsgemäß reinschiebt, um noch fetter zu werden...
Der Trend geht eindeutig zu dünner besetzten Ensembles über: praktiziert werden nach Beethoven und Schubert auch Schumann, Berlioz, Brahms, Mahler und Poulenc (und sicher noch einige Komponisten, die mir diesbezüglich noch nicht aufgefallen sind) im HIP-Kostüm. Ob dies natürlich gerade für die letztgenannten nicht geisteskrank ist, wage ich nicht zu beantworten; es ist auch egal. Es ist jedoch Fakt, daß auch diesen Komponisten die neuartige Herangehensweise, die auf historischen wissenschaftlichen Arbeiten für eine andere Epoche beruht, durchaus gut tut. Hier wird einfach mal der Spieß umgedreht: jahrelang mußte man bei seiner Lieblingsmusik diesen verfetteten Karajankram (stellvertretend) ertragen, jetzt sind mal die anderen an der Reihe, IHR Bild von der Musik an den Nagel zu hängen und sich mit dem anzufreunden, was der Markt bietet, also KaraNEIN. Wer sich dem verschießt - bitte sehr - ein Rückgriff auf die heißgeliebten 'Interpretationen' der Vergangenheit ist ja (zum Glück) möglich (solche Hörer aber benötigen imo auch keine Neueinspielungen, da ihr Geschmack ja gefestigt und verkrustet ist und sie ohnehin nur diesen zulassen). Wenn man schon alte Musik im neuen Gewand (ich meine damit die moderne Praxis und moderne Instrumente) darbieten durfte und darf, dann aber auch umgekehrt neue(re) Musik im Barockkostüm. Wenn dies nicht Kunst ist, was dann?
Der bis heute resistente Virus carajanus ist m. E. ein Ergebnis der Marketingstrategen, die es schon immer verstanden, den Konsumenten gegen ihren klaren Verstand Waren anzudrehen - da wird das Hirn einfach mal abgeschaltet, den Abschalter für den persönlichen Geschmack finden wir erst garnicht, weil er nie eingeschaltet werden musste... (dabei hat natürlich auch Karajan Hervorragendes gemacht - ich benutze ihn hier ausdrücklich nur stellvertretend).
Es ist schon ein Paradoxon, historische Aufführungsprais als aktuellen Modetrend zu haben. Aber irgendwie ist das auch cool... Die Musiker tun aber endlich das, was sie WOLLEN und nicht das, was sie MÜSSEN.
Ich sehe mich schon kopfhaarlos im (dann vermutlich virtuellen) Ohrenlehnsessel sitzen und sagen: Ach, das waren noch aufregende Zeiten... mit Schoonderwoerd, Immerseel, Kermes, den Countertenören, Mini-Ensembles, Darmsaiten, Hammerklavieren, ...