Ich habe mich in den letzten Tagen nach längerer Zeit mal wieder der Gesamteinspielung der Bachschen Orgelwerke durch Gerhard Weinberger gewidmet.
Zunächst bin ich sehr froh, dass Weinberger so viele unterschiedliche "originale" Instrumente aus dem Bachumkreis in der Einspielung berücksichtigt. Das Kaleidoskop an Orgelhandschriften, dass dadurch entsteht ist großartig und unterstreicht einmal mehr, welche Verantwortung der Organist bei der Auswahl des Programmes für seine "Orgel" trägt. Implizit meint das auch die Einbeziehung des Kirchenraumes in diese Überlegung. Wenn dies dann auch noch aufnahmetechnisch gespiegelt wird, dann sind die Voraussetzungen ausgezeichnet. Dies höre ich bei Weinberger so gut wie auf keiner meiner anderen Gesamtschauen realisiert.
In den freien Orgelwerken wählt Weinberger meist ein relativ starkes Plenum, so wie wir es als historisch wohl verbürgt annehmen können. Glücklicherweise geht der "volle" Klang nicht zu Lasten der Durchhörbarkeit. Weinberger artikuliert deutlich, bisweilen relativ kleingliedrig. Das gefällt mir sehr gut, empfinde ich als sehr rhetorisch. Tempomäßig ist Weinberger in den freien Werke meist eher auf der schnellen Seite. So stellen sich trotz der z.T. kleingliedrigen Artikulation auch große Linien ein, allerdings gestaltete, verwaltete nicht im Dauerlegato ertränkte! Virtuose Klangräusche etwa in BWV 542 oder BWV 572 sind durchaus statthaft, aber immer ist ein Nachverfolgen der Linie möglich. Möglicherweise ist dies dem ein oder anderen zu analytisch, meiner Auffassung kommt das sehr entgegen. Gerade in den freien Werken mit ihrem Plenum-Charakter kann man sehr gut den Charakter der verwendeten Instrumente nachvollziehen. Und was für herrliche Plenum-Registrierungen sind zu hören.
Gut gefällt mir BWV 582 (Passacaglia c-moll), hier treten die einzelnen Stimmen und Schichten des Werkes vorbildlich in Beziehung zu einander, Dialogstellen werden ausgezeichnet verdeutlicht. Der Bau zeichnet außerordentlich klar und gut. Die Differenzierung der Klanglichkeit durch Stimmführung und Satzform sind für den Hörer sehr gut greifbar. In Aufnahmen wie diesen wird für mich völlig erlebbar, daß es keiner ausgefeilten Registrierungsplanes für dieses Werk braucht, dass hier eben kein per aspera ad astra im Sinne einer (klanglichen) Steigerung vorliegt, ganz im Gegenteil!
Einen etwas anderen Weg geht Weinberger in den Choralgebundenen Werken. Hier nimmt er sich eher Zeit, die Tempi sind stets angemessen aber eher nicht auf der schnellen Seite. Er findet exquisite Registrierungen, die die Choralvorspiele in ihrem Charakter zum Leuchten bringen. Ganz nebenbei hört man, wie viele klangliche Schattierungen Orgelbauer im Rahmen einer übergeordneten Klangvorstellung gefunden haben, ja sogar in ihren eigenen Orgeln! Weinberger setzt auch hier ganz auf Durchhörbarkeit des Satzes, auf eine durchdachte und rhetorisch orientierte Artikulation. Hier erlaubt sich auch im Gegensatz zu den freien Werken agogische Freiheiten.
Hier ist für mich etwa BWV 641 ("Wenn wir in höchsten Nöten seien" aus dem Orgelbüchlein) ein Paradebeispiel. Weinberger wählt eine völlig unspektakuläre Registrierung, verleiht dem Stück allein durch sein Spiel die Plastizität, die es braucht. Jede Stimme ist einzeln nachvollziehbar, atmet und findet sich dennoch in einem beglückenden Ganzen zusammen.
Zusammenfassend finde ich mein früheres Urteil bestätigt: Die Weinberger-Gesamteinspielung der Bachschen Orgelwerke gehört für mich zu den Wichtigsten. Das fängt bei den Orgeln und der dadurch entstehenden bei aller übergeordneten klanglichen Ästhetik ohrenfälligen Differenziertheit an, für die Weinberger (fast) immer das perfekte Programm findet. Natürlich funktionieren die Kompositionen auch auf anderen Instrumenten. Dennoch: ich hatte selten den Eindruck, das Werk und Instrumente so gut zusammenpassen wie hier. Auch Weinberger interpretatorische Herangehensweise ist für mich schlüssig und angemessen. Sie speist sich für mich jederzeit aus dem Werk und dem Wissen um Aufführungspraxis heraus. Mit dieser Aufnahme findet der Hörer einen sehr guten Zugang zum Bachschen Orgelwerk, der zudem klanglich in vielem dem nahe kommt, was Bach an Orgeln gekannt und favorisiert hat (die Problematik der Umbauten, Veränderungen, Intonation etc. lasse ich jetzt mal ausgeklammert).