Ich versuche mich mal an einem Konzertbericht (und zwar wegen des Umfangs in zwei Teilpostings), da ich am 08. Juni eine beeindruckende, auch lange Nacht mit alter und neuer Musik verbracht habe. Es handelte sich um das ABSCHLUSSKONZERT DES FESTIVALS ROMANISCHER SOMMER KÖLN: ROMANISCHE NACHT DER STIMMEN AB 20 UHR IN ST. MARIA IM KAPITOL.
Ob es tatsächlich um 20:00 Uhr begann, kann ich nicht sagen, da ich irgendwann aufgehört habe, auf die Uhr zu schauen. Ich tat dies erst, als ich die Kirche wieder verließ - das war um 1:00 Uhr des folgenden Samstags. Für die 30,- € Eintritt bekam man also nicht nur die vier angekündigten Ensembles, sondern diese auch in stundenlangem Umfang in einem behaglich erhabenen Raum. Das Erleben von Zeit verschob sich und die Musik schaffte eine ihrer schönsten Eigenschaften: woanders zu sein.
Nachdem sich der Einlass um gut eine Dreiviertelstunde verzögert und ich die Kirche betreten hatte, ging es erstmal um Orientierung: der Ort des Geschehens würde die Vierung und der Chor mit der Ostkonche sein. Also erstmal durch das Langhaus und durch das Seitenschiff zur Dreikonchenanlage. Nach Westen, unter dem Lettner, war eine kleine Bühne aufgebaut, ihr gegenüber, in Chor und dem Halbrund der Ostkonche eine größere. Dazwischen, in der Vierung und der Nord- bzw. Südkonche standen sich Stuhlreihen gegenüber, mit vier oder fünf Metern Abstand der vordersten Reihen zueinander. So saß sich das Publikum also gegenüber mit jeweils einer Bühne zur Rechten wie zur Linken. Für Zuschauer nicht gerade die beste Position - für Zuhörer allerdings, und darum ging es erklärtermaßen, die stimmige Aufforderung, sich, die Musik und den Raum wahrzunehmen. Letzterer war farbig aber dezent ausgeleuchtet, wodurch die zwar rekonstruierte, aber gleichwohl bezaubernd frühromanische Architektur beruhigt lebendig wirkte, was den Blick besonders beim späteren Klanggenuss zum Schweifen anregte. Intim wirkte das, obwohl das Konzert gut besucht war, nicht jeder bekam noch einen Sitzplatz.
Nun also die Musik. Den Auftakt gab das Ensemble Eurasians 5, eine Kleinbesetzung aus dem größeren Eurasians Unity. Deren Musik ist ein Amalgam arabisch-osteuropäischer Folklore mit westlichem Jazz. Ablesbar bereits an der Besetzung mit Feruza Ochilova (Gesang, Doira, Dutar) aus Usbekistan, Negar Booban (Oud) aus Iran, Veronika Todorova (Akkordeon) aus Bulgarien, Alex Morsey (Kontrabass, Gesang, Sousaphon) und Caroline Thon (Saxophon), beide aus Deutschland. Das Programm bestand aus Folksliedarrangements bis Eigenkompositionen, wobei die Instrumente in mal traditioneller, mal modernerer Spielweise ein ganz eigenes, stimmiges Klangbild erzeugten. Insgesamt schien mir der Sound zunächst leider etwas zu leise und verschwommen, aber das war wohl hauptsächlich ein anfänglicher Irritationspunkt, als meine Ohren noch nicht an den weiten Kirchenraum hinter der intimen Nähe gewöhnt waren. Ochilovas klassischer Gesang trug wunderbar in die Tiefe und nutzte in manchen Passagen die enorm weit tragende Hintergündigkeit der Basilika-Akustik. Jede der Musikerinnen und auch der Musiker bekam eine Passage im Vordergrund, melodiös-jazzig improvisierend, als besonders virtuos blieb mir davon Veronika Todorovas Akkordeonspiel im Bewusstsein.
Anschließend wandte sich das Geschehen zur größeren Bühne, wo sich nun das Orchester (in diesem Teil ohne Streicher) Musica Fiata und der Chor La Capella Ducale unter der Leitung von Roland Wilson aufstellten. Das wurde music on period instruments in Reinform und ich saß auch noch nah an den Zinken, deren warmen, brillianten Klang ich so liebe. Gespielt wurde in zwei Teilen (dazwischen trat ein anderes Ensemble auf, s.u.) Musik von den 18-tägigen Hochzeitsfeierlichkeiten in der Münchner Residenz des Jahres 1568. Damals heiratete Erbherzog Wilhelm V. gegen Renata von Lothringen und abgesehen davon, dass rund 5000 Pferde des angereisten Adels zu versorgen waren, hatte der Münchner Hofkapellmeister Orlando di Lasso die Aufgabe mithilfe der Münchner Hofkapelle sowie denen aus Graz und Innsbruck für Gotteslob, Tafelmusik und Tanz zu sorgen. Was für ein Fest! So wurde nun in dieser romanischen Nacht geistliche Musik abwechselnd von di Lasso selbst und von Annibale Padovano (Messe a 24) aufgeführt. Die 24 Stimmen der Messe sind in drei Chöre aufgeteilt, von denen zwei aus Instrumenten und jeweils zwei Sängern und der dritte in reiner Vokalbesetzung bestand. Das ergab einiges an Bewegung zwischen den Stücken, denn auch hier wurde der Raum genutzt, der Klang im Raum verteilt, der eine Musiker oder die andere Musikerin wechselten in diesem Orchester manchmal nicht nur ihren Ort: einige sind Multiinstrumentalisten. Viele wunderbare Instrumente waren da zu hören, von der Bassposaune über ein Regal bis zur Dulzaina - teils recht ungewöhnliche Besetzungen trugen auf der Grundlage genauer Recherchearbeit und Leitung Roland Wilsons (der einen hervorragenden Text für das Programmheft beisteuerte) diese beinahe ein halbes Jahrtausend alte Ausnahme-Musik frisch in den Kirchenraum von St. Maria im Kapitol. Ein wunderbares Erlebnis, das auch nicht von dem obligatorischen Kölner geschmälert werden konnte, der meinte, irgendwann schonmal klatschen zu müssen, während Wilson mit ausgebreiteten Armen, kurz den Klatscher wegwedelnd, die Spannung für das folgende Stück hielt.
Der Sprung nach dieser Gottesdienstfestlichkeit zum folgenden, wieder kleineren Ensemble war groß: Thierry Pécou leitete sein 6-köpfiges Ensemble Variances, wobei es neben den beiden Altistinnen Katarina Livljanić und Noa Frenkel eigentlich noch ein siebtes Mitglied gab, das entgegen dem Programmheft statt Pécou das Fender Rhodes Piano bediente. Den Auftakt zu der von Pécou selbst stammenden Kantate "Femme changeante, cantate des quatre montagnes" (2015) gab Katarina Livljanić solo dort, wo gerade noch Münchner Festivitäten ertönt hatten, mit "Domine, exaudi orationem meam" aus dem Manuskript 359 der Stiftsbibliothek St. Gallen, sowie einem "Glagolitischen Gesang" aus Poljica, Kroatien, und "Plač Jeremije proroka" (Klagelied Jeremias) - ihr Gesang entfaltete sich über ungefähr eine Viertelstunde im Raum und allein das wäre schon den Besuch der Veranstaltung wert gewesen. Der Sprung ging nun also vom 16. Jahrhundert nocheinmal 500 Jahre zurück, um dann mit Anlauf im Zeitgenössischen zu landen. Das Ensemble hatte sich im Kern (Laurene Durantel, Kontrabass; David Louwerse, Violoncello; Irini Aravidou, Perkussion; sowie beide Altistinnen, nachdem Livljanić während und nach ihrer Darbietung herübergewandert war) auf der kleinen Bühne platziert. Allerdings nutzten die weiteren Ensemblemitglieder (Anne Cartel, Flöte; Carjez Gerretsen, Klarinette; Nicolas Prost, Saxophon) auch andere Standorte auf der großen Bühne und zwischen den Stuhlreihen der Zuschauer, so dass sich hier noch einmal ein sehr bewegtes raumakustisches Erlebnis vollzog. Mit dem Konzept der Komposition, in deren Grund ein Heilungsritual der Navajo-Indianer liegt, konnte ich zwar nichts anfangen, aber der kontinuierliche, rhythmusbetonte, teils dissonant-schrille, teils faszinierend aufblitzende Klangteppich, der hier hochkonzentriert gewoben wurde, nahm mich dennoch gefangen. Ich hätte gerne in die Partitur geschaut. Die beiden Sängerinnen nutzten scheinbar jeden mit Zwerchfell, Lunge, Stimmbändern, Kehlkopf, Mund, Lippen und natürlich Luft fabrizierbaren Laut, die Klänge der Instrumente überschritten gerne die Grenze zum Geräusch und zusammengehalten und damit jenseits von jeder Beliebigkeit gerückt wurde das Ganze durch einen Duktus, mit dem sich selbst auseinanderdriftende Überlagerungen aufeinander bezogen. Das Stück endete in einem Kulminationspunkt, bei dem statt der erwähnten Instrumente nur mehr jede/r eine eigene Trommel schlug, interferierend im Rhythmus und doch am Ende mit gewaltigen, einzelnen Schlägen nocheinmal den Raum auskostend. Viele Besucher hielt es danach nicht auf den Stühlen und nicht die plattgesessenen Backen waren der Grund für die stehenden Ovationen.